Es ist eine wahnsinnig große Zahl: Rund 11 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jedes Jahr in Deutschland weggeschmissen. Vieles davon wäre noch genießbar. Bei anderen Produkten hätte leicht verhindert werden können, dass die Lebensmittel verderben.

Im Zentrum des Problems: Die Verbraucher. Also wir. Mehr als die Hälfte der verschwendeten Lebensmittel - über 6 Millionen Tonnen - gehen laut Daten der Europäischen Union auf das Konto der Kundinnen und Kunden. Doch was, wenn wir Verbraucher gar nicht die Hauptschuldigen sind?

Wird der Großteil der Lebensmittel tatsächlich von Kunden weggeschmissen?

Blicken wir zunächst auf die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes beziehungsweise des europäischen Pendants Eurostat. Nach den neuesten Daten von 2022 wurden in Deutschland 10,76 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen. Die Verschwendung setzt sich so zusammen:

  • Primärproduktion in der Landwirtschaft: 0,18 Millionen Tonnen
  • Lebensmittelherstellung: 1,56 Mio Tonnen
  • Einzelhandel und Vertrieb: 0,77 Mio Tonnen
  • Gastronomie: 1,98 Mio Tonnen
  • Private Haushalte: 6,29 Mio Tonnen

Pro Bürger kommen so pro Jahr rund 78 Kilogramm zusammen. Zum Vergleich: In Deutschland wird pro Person rund 20 Kilogramm Brot und 72 Kilogramm Fleisch pro Jahr verzerrt. Das ist deutlich mehr, als die Summe aller anderen "Verschwender". Es ist also relativ eindeutig, dass das Hauptproblem bei uns Endkunden liegt und gerade landwirtschaftliche Betriebe und der Lebensmittelhandel kaum einen Einfluss auf die Lebensmittelverschwendung in Deutschland haben, oder? 

Supermärkte und Discounter setzen Landwirte unter Druck

Nun, es gibt zumindest gute Hinweise darauf, dass dies nicht unbedingt der Fall ist. Zuletzt hatte sich Deutschen Umwelthilfe (DUH) eine Umfrage bei Aldi Nord, Aldi Süd, Edeka, Kaufland, Lidl, Netto, Penny und Rewe gestartet. Die Frage: Wie gehen die Lebensmittelhändler mit Obst und Gemüse um, die nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen? 

Das Ergebnis: Die überhöhten Anforderungen des Lebensmitteleinzelhandels an Größe und Gewicht oder spezielle Färbungen tragen zur unnötigen Verschwendung von Obst und Gemüse bei. "Keine einzige deutsche Supermarktkette nimmt den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung wirklich ernst", betont Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der DUH. "Die Supermärkte sind damit nicht nur für die Verschwendung genießbarer Lebensmittel verantwortlich, sondern auch für die Verschwendung knapper werdender Ressourcen wie Wasser und Anbaufläche."

Doch wie kommen die Umweltschützer zu dieser Annahme? Im Gegensatz zu den offiziellen Statistiken spricht die DUH von etwa 18 Millionen Tonnen verschwendeter Lebensmittel pro Jahr. Die zusätzlichen 7 Millionen Tonnen würden schon vor bzw. bei der Ernte aussortiert. "Schätzungen zufolge wird ein Drittel der landwirtschaftlichen Produkte allein wegen optischer Kriterien weggeworfen - bei manchen Sorten sogar bis zu 40 Prozent", so Müller-Kraenner. Weil Supermärkte von der Norm abweichendes Obst und Gemüse nicht kaufen, würden Landwirte genießbare Lebensmittel bereits auf dem Feld aussortieren.

Henne-Ei-Problem: Warum kaufen Kunden kein Obst mit Fehlern?

Tatsächlich ist das Problem seit Jahren bekannt, verlässliche Zahlen gibt es jedoch nicht. Schon in einer Studie des WWF aus dem Jahr 2015 wurde davon ausgegangen, dass etwa 30 Prozent der Gemüse- und Obstproduktion noch auf dem Feld aussortiert werden. Doch da es schwierig ist, die Menge des nicht geernteten Obst und Gemüse verlässlich zu erfassen, ist man hier auf Schätzungen angewiesen.

In den meisten Studien zum Thema Lebensmittelverschwendung werden diese Zahlen deswegen nicht mit einbezogen - obwohl sie in der Summe wohl höher liegen, als die Menge der Lebensmittel, die Verbraucher entsorgen. Auch 10 Jahre nach die Studie ist die Datenlage hier kaum besser. So spricht beispielsweise das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft weiterhin von rund 11 Millionen Tonnen und unterschlägt die Verluste durch nicht geerntete Lebensmittel damit komplett.  

Supermärkte und Discounter betonen, dass Kundinnen und Kunden Produkte nach ästhetischen Kriterien auswählen - und schieben den Schwarzen Peter damit wieder dem Endverbraucher zu. Auch die Welthungerhilfe argumentiert so: "Im Groß- und Einzelhandel sorgen Kundenwünsche nach einer breiten und optisch ansprechenden Auswahl sowie Produktvorgaben dafür, dass viele Erzeugnisse durchs Raster fallen und entweder nicht vermarktungsfähig sind oder liegen bleiben und entsorgt werden." Man könnte hier aber auch ein Henne-Ei-Problem vermuten: Denn Kundinnen und Kunden werden von Lebensmittelhändlern über Jahre dazu erzogen, dass Gemüse und Obst makellos sein und eine bestimmte Größe und Form haben muss.

Trotz Vereinbarung: Lebensmittelhändler tun zu wenig

Die Europäische Union und auch die Bundesrepublik Deutschland hat sich verpflichtet, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren. Dabei wird auch explizit erwähnt, dass Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern künftig gezielt verkauft werden soll, statt in der Tonne zu landen. Doch wie dies gelingen soll, bleibt unklar. Eine entsprechende Vereinbarung hatten zum Start 2023 insgesamt 14 Groß- und Einzelhändler unterzeichnet - darunter auch einige, die laut DUH bisher kaum Maßnahmen ergriffen haben, diese Art der Verschwendung auch wirklich zu reduzieren. 

Um dies klarzustellen: Wir Verbraucher können viel tun, um die Verschwendung von Lebensmitteln zu reduzieren. Doch wir Kundinnen und Kunden sind eben nicht allein für die Millionen Tonnen weggeschmissener Lebensmittel verantwortlich. Dies sollte und - und vor allem den politischen Entscheidungsträgern - immer bewusst sein.