Im Grimmschen Märchen "Der Wolf und die sieben Geißlein" werden sechs der sieben Geißlein gefressen, weil es ein Wolf schafft, sich als Mutter auszugeben und ins Haus der "Geißens" einzudringen. Nur ein Geißlein schafft es, sich in der Wanduhr zu verstecken und vom Wolf verschont zu bleiben. Später kann es der Mutter erzählen, was passiert ist. Was dazu führt, dass die Geschwister aus dem Bauch des Räubers gerettet werden können. Selbstredend geht die Geschichte im "Tatort: Das jüngste Geißlein" nicht ganz so gut aus. Kommissar Berg (Hans-Jochen Wagner), der von den Ereignissen rund um seinen Bruder "Reini" vom letzten Fall noch traumatisiert und außer Dienst ist, wird von der Dorfbäckerin gebeten, mal nach ihrer verschollenen Mitarbeiterin zu schauen. Der private Kriminaler findet im einsamen Schwarzwaldhaus der Exil-Rumänin deren verängstigte Tochter Eliza (Hanna Heckt) vor, versteckt in der Wanduhr. Das Mädchen spricht nicht, Vater und Mutter sind verschwunden, Blutspuren im Haus deuten auf ein Verbrechen hin.

Friedemann Berg verständigt seine Kollegin Franziska Tobler (Eva Löbau), die mit einem Team den vermeintlichen Tatort untersucht. Die neunjährige Eliza, die in Dauerschleife unter ihren Walkman-Kopfhörer das Märchen "Der Wolf und die sieben Geißlein" hört, wird ins Jugendheim gebracht - eng betreut, ja fast schon abgeschottet von ihrer Kinderpsychologin Dr. Kaltenstein (Mina Tander). Warum will die Therapeutin nicht, dass sich Eliza der Polizei öffnet?

Zu Friedemann Berg, der sie gefunden hat, scheint das Mädchen ein Vertrauensverhältnis entwickelt zu haben. Dabei ist der bärige Polizist nach dem Tod seines Bruders und einer Suspendierung vom Dienst nicht gerade in bester Verfassung. Auch zu Kollegin und Freundin Tobler, die Friedemann hin und wieder auf dessen Funkloch-Hof besucht, scheint das Verhältnis angespannt. Und dann fängt es in diesem bitterkalten und in dunklen Farben gehaltenen "Tatort" auch noch zu schneien an. Doch wann wäre dies passender als im Schwarzwald Anfang Januar?

Wer ist hier der Wolf?

Dass dieser dunkle, märchenhafte Schwarzwald-"Tatort" (Buch und Regie: Rudi Gaul) mehr als nur ein bisschen mit besagtem Märchen zu tun hat, ist von Anfang an klar. Dennoch stellt Franziska Tobler im Kommissariat die offene Frage: "Bedeutet das Märchen etwas?" Daraufhin ihr Kollege Wolburg (Stefan Wilkening), offenbar ein Zyniker: "Märchen bedeuten immer dasselbe: Geh nicht alleine raus. Nicht mit Fremden mitgehen. Nicht vom Weg abkommen. Sonst wirst du vergewaltigt oder tot geschlagen. Oder beides."

Im Märchen ist jener Wolf, der vor den Geißlein seine Stimme verändert (Kreide frisst) und seine Pfote weiß färbt, um als Mutter Geiß durchzugehen, von Beginn an als Bösewicht bekannt. Im stimmungsvollen Winterkrimi aus dem Schwarzwald fragt man sich indes: Wer ist hier der Wolf? Ist es der Vater? Liegt ein Fall von häuslichem Missbrauch vor, wie einige Beobachter der Familie vermuten? Oder weist die Auflösung des Falles, die es in der Tat in sich hat, doch in eine andere Richtung?

Seit dem letzten Schwarzwald-Fall "Der Reini" sind erst wenige Wochen vergangen. In Sachen Stimmung und Verortung der Ermittler knüpft "Das jüngste Geißlein" durchaus an das dortige Geschehen an: Berg ist außer Dienst. Die Trauer um seinen tragisch ums Leben gekommenen kleinen Bruder Reini steht ihm noch ins Gesicht geschrieben. Auch die Familientragödie rund um den Vater der Brüder Berg spielt wohl eine Rolle bei Friedemann Suspendierung. Der neue Schwarzwald-Fall ist wieder mal ein Landkrimi, auch wenn Bergs düsterer Hof von seinem Solo-Bewohner gerade ausgemistet wird und zum Verkauf steht.

Neben dem gewohnt feinen Spiel der Komissare Tobler und Berg (respektive ihrer Darsteller) muss man in diesem Krimi auch die Leistung der kleinen Hanna Heckt hervorheben, die ihre tragende Rolle im zarten Schauspielalter sehr authentisch und echt verkörpert. Immerhin und das zum Trost: In ihrer Fantasie ist Eliza ja nur das jüngste Geißlein. Ihre sechs älteren Fantasie-Geschwister helfen ihr in vielen imaginären Szenen. Gut, denkt man sich, wenn man eine große Familie hat, auf die man sich verlassen kann. Gerade dann, wenn eigentlich niemand für einen als Kind da ist.

Tatort: Das jüngste Geißlein - So. 04.01. - ARD: 20.15 Uhr

Quelle: teleschau – der mediendienst