Über 40 Prozent der Deutschen trauen sich nicht mehr, ihre politische Meinung zu äußern - im Osten sind es sogar 47 Prozent. Mit dieser bitteren Umfrage im Gepäck geht man als ZDF-Reporter am besten wohin? Na klar, in den Osten! In Döbeln in Sachsen muss Mitri Sirin nicht lange suchen, um Menschen zu finden, die seiner "Am Puls"-Reportage mit dem Titel "Ist unsere Meinungsfreiheit in Gefahr?" die ersten Punchlines liefern.
Willkommen fühlt sich Sirin als bekanntes ZDF-Gesicht in Döbeln zwar nicht. Dann aber bleiben ein Mann und eine Frau bei ihm stehen und lassen sich ein auf ein Gespräch darüber, warum sich so viele nicht mehr frei fühlen. "Wenn man anders denkt, so wie wir - weil uns kann man nicht mehr für dumm verkaufen -, dann heißt es, man ist rechtsradikal. In die Schiene lass ich mich nicht reinstecken", bekommt der Journalist von der Dame zu hören.
Passantin in Sachsen beschwert sich: "Sozialer Ausschluss, das geht bei Facebook los!"
Andere in eine "Schiene reinstecken" geht aber offenbar schon. "Die CDU, SPD, die Grünen wählen, das ist dasselbe Gelumpe! Die Sch... kannten wir schon, die wir jetzt haben", lässt ihr Begleiter wissen. Dass der Passant das wiedervereinte Deutschland sogar "schlimmer" als die DDR findet, kann Sirin nicht fassen: "Sie konnten ihre Meinung nicht frei äußern!" Nur wenn man "ganz krass staatsfeindlich war", sei man "weggesperrt worden", wirft die Frau ein.
Eine Seniorin mischt sich ein und tut kund, dass sie die DDR keinesfalls wiederhaben wolle, aber sie kommt nur schwer zu Wort. Denn eine weitere Passantin hat sich hinzugesellt. Sie beschwert sich, dass sie schon oft bei Facebook gesperrt worden sei, "obwohl ich meine Worte wirklich gut wähle". Sirin kommt das komisch vor: "Wenn das nicht justiziabel ist, warum werden sie gesperrt?" Die Antwort löst seine Irritation nicht wirklich: "Man darf alles sagen, das ist richtig, aber man wird gemaßregelt. Sozialer Ausschluss, das geht bei Facebook los!" Sie sei nicht 1989 auf die Straße gegangen, um wieder dahin zu kommen, dass es heiße: "Du hast schön den Mund zu halten!"
Puh! Man kann wirklich nicht sagen, die Filmemacher hätten ihr Thema aus der Luft gegriffen. Und natürlich brennt es nicht nur den Ostdeutschen auf der Seele.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann hält einsamen Rekord
In Bochum trifft der ZDF-Journalist an der Currywurstbude einen Rentner namens Ulrich. Der VfL-Fan und ehemalige Krankenpfleger beschwert sich über neue Sprechvorschriften und liefert ungewollt eine schöne Kostprobe für das Auseinanderklaffen zwischen gemeint und gesagt: "Selbst im Fußball hatten wir Männer, die Männer geliebt haben - na und, shit happens!" Die Aussage will Ulrich als Bekenntnis zu gelebter Diversität verstanden wissen. Was er nicht versteht: warum er nicht mehr reden darf, "wie ich konditioniert bin vom Leben", und dann fällt natürlich schon bald das Wort von der Schnitzelspezialität.
Einen, der ein "Z-Schnitzel" bestellt, würde er selbstverständlich sofort belehren, bekräftigt ein weiterer verblüffend selbstbewusster Gesprächspartner der Doku, der angehende Orchestermusiker Noah, Ex-AfD-Anhänger und inzwischen Mitglied bei den Grünen. Was es nicht alles für Meinungskarrieren gibt in Deutschland!
Beim Belehren belässt es Marie-Agnes Strack-Zimmermann oftmals nicht. Fast 2.000 Personen hat die FDP-Politikerin bislang wegen beleidigender und bedrohender Einlässe angezeigt - einsamer Rekord in der deutschen Politik. Für einige der Verfasser sei es "der berühmte Schuss vor den Bug" gewesen, gibt sie Sirin im Interview zu verstehen. Das hat bei Marlies, die in den Niederlanden wohnt, nicht gefruchtet.
67-Jährige kommen im ZDF-Interview die Tränen
Die 67-Jährige bezichtigte Strack-Zimmermann (deren Namen sie falsch schrieb) bei Twitter, mit der "Waffen Industrie ins Bett" zu gehen und erkundigte sich: "Warum wird diese Kriegstreiberin nicht eingesperrt?" Den anschließenden Rechtsstreit gewann Marlies vor Gericht. "Ich war traurig, dass es so weit gekommen ist", erklärt sie gegenüber Mitri Sirin.
Sie habe ja keine Morddrohung verfasst, sondern nur "eine Kritik an ihrer Person und ihren Äußerungen". Und überhaupt: Wer in die Politik gehe, müsse "Druck und Beleidigungen auch aushalten können", findet die Frau, der offenbar selbst der Druck zu schaffen machte. Als sie von der Erleichterung nach dem Urteil spricht, kommen ihr vor der ZDF-Kamera die Tränen.
Wo hört Meinungsfreiheit auf - und wo wird sie womöglich illegitim beschnitten? Es sind Fragen, denen auch der Demokratieforscher Richard Traunmüller nur mit dem Verweis auf ein Dilemma begegnen kann. Der in Mannheim lehrende Wissenschaftler spricht vor der ZDF-Kamera von einem "Toleranzparadox" und erklärt es mit einer weiteren schönen Frage, auf die man zu gern eine gute Antwort hätte: "Wie kann man sich verteidigen gegen illiberale Kräfte, ohne selbst illiberal dabei zu werden?"
US-Philosoph Jason Stanley: "Die AfD ist noch peinlicher als Trump"
Was passiert, wenn jene, die gegen "woken" Meinungsmainstream Stimmung machen, selbst an die Macht kommen, lässt sich derzeit in den USA beobachten. Mitri Sirin besucht für seine Doku im Umland von Detroit seinen alten WG-Kumpel Ulrich und dessen Frau Bénédicte. Beide sind Uni-Professoren und beide können inzwischen im Schlaf runterbeten, welche Wörter sie bei ihrer Arbeit nicht mehr verwenden dürfen, wenn sie nicht die Streichung von Fördergeldern riskieren wollen: "'Frau', alles, was mit 'Ethnizität' zu tun hat, alles was mit dem 'Klimawandel' zusammenhängt, 'LGBTQ', 'Homosexualität' ..." Die Liste ist lang.
"Was erleben wir da gerade?", fragt Sirin auf seiner USA-Reise den - noch - in Yale lehrenden Philosophen Jason Stanley. "Faschismus natürlich", kommt die Antwort. Trump sei ein Autokrat. "Es ist wichtig, dass man versteht, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr demokratisch sind." Warum er nach Kanada emigrieren wird und nicht nach Deutschland, in das Land seiner Vorfahren? Die Antwort trifft den Reporter sichtlich: "Die AfD ist noch peinlicher als Trump. Ich will nicht, dass meine Kinder in einem Land aufwachsen, in dem die AfD an die Macht kommen könnte."
"Wer so etwas fragt, hat keine Ahnung, wie Unfreiheit aussieht"
Wie das ist, in einem autoritären Staat zu leben, das wissen auch im wiedervereinten Deutschland noch viele aus dem eigenen Erleben. Der Maler und Schriftsteller Thomas Klingenstein verbrachte Anfang der 80er-Jahre Monate im Stasigefängnis Berlin-Hohenschönhausen, ehe er in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.
Hier schließt der Film nicht unelegant den Kreis zur sächsischen Straßenumfrage. Vergleiche mit der DDR seien schmerzlich für all jene, die Unfreiheit erlebt hätten, sagt Klingenstein, 64, im Gefängnistrakt, der heute eine Gedenkstätte ist. Gibt es in Deutschland noch Meinungsfreiheit? Allein die Frage findet der Künstler "absurd": "Wer so etwas fragt, hat keine Ahnung, wie Unfreiheit aussieht."
"Am Puls mit Mitri Sirin - Ist unsere Meinungsfreiheit in Gefahr?" ist am Freitag, 3. Oktober, 19.20 Uhr, im ZDF zu sehen und schon jetzt in der ZDF-Mediathek.