Am Fuß der malerischen Alpen und unweit des Königssees ist Hilde Gerg zu Hause. Sie kümmert sich um Haus, Hof und Familie. Doch früher, da drehte sich in Gergs Leben fast alles ums Skifahren. Auf den Pisten der Welt wurde sie zu einer der erfolgreichsten deutschen Skirennfahrerinnen.
Gold bei Olympia, Gold bei Weltmeisterschaften und 20 Weltcupsiege gelangen der "wilden Hilde". Trotz Verletzungen und des frühen Todes ihres Mannes sagt sie heute: "Das Glas ist auf jeden Fall halb voll und nicht halb leer." Zu ihrem 50. Geburtstag widmet der BR Hilde Gerg eine Folge seiner Doku-Reihe "Lebenslinien".
Am 19. Oktober 1975 kommt Gerg im oberbayerischen Bad Tölz zur Welt und wächst zwischen den Gästen auf der Hütte ihrer Eltern auf. Schon mit zwei Jahren steht sie das erste Mal auf Skiern, fährt damit sogar in die Schule, wenn die Bergbahn noch nicht in Betrieb ist. "Da baust du natürlich schon eine Widerstandsfähigkeit auf, die sicher im späteren Leben brutal viel geholfen hat", glaubt sie. Gerg denkt gerne an ihre Kindheit in den Bergen: "Alles, was um die Hütte herum war, war halt unser Spielplatz", erzählt sie bei einem Besuch mit ihrer Familie.
Erstes Mal Olympia mit 17 Jahren
Mit neun Jahren beginnt Gerg, regelmäßig zu trainieren - das sei später auch ein guter Grund gewesen, nicht auf der elterlichen Hütte aushelfen zu müssen, grinst sie. Schon bald fährt sie nicht mehr nur die heimischen Pisten herunter, sondern nimmt an nationalen Wettkämpfen teil. Im Alter von 14 Jahren wechselt sie schließlich auf eigenen Wunsch auf das Sportinternat Garmisch-Partenkirchen, auf Anraten ihrer Trainer ein Jahr später auf das Sportinternat in Berchtesgaden.
Dort lernt sie den fünf Jahre älteren Wolfgang "Wofal" Graßl kennen, der damals Trainer am Internat ist. "Für mich war das ja irgendwo Liebe auf den ersten Blick", lächelt Gerg in der BR-Doku. Doch mehr als Schwärmerei wird vorerst nicht daraus. 1992 macht sie ihren Realschulabschluss, tritt der Sportfördergruppe der Bundeswehr bei und macht eine Ausbildung. Gleichzeitig treibt sie ihre Profikarriere weiter voran. Mit 17 Jahren qualifiziert sich die "wilde Hilde", wie sie wegen ihres Fahrstils genannt wird, bereits für die Olympischen Spiele.
Bei den Winterspielen in Norwegen reicht es noch nicht für eine Medaille. Der Begeisterung in ihrer oberbayerischen Heimat tut das keinen Abbruch: Viele wollen Autogramme vom jungen Skirennstar. "Ich habe das eigentlich immer nicht so gerne gemacht, mein eigenes Gesicht zu unterschreiben. Das war schon ein bisschen seltsam für mich", sagt Gerg rückblickend.
Ihre Beziehung mit Wolfgang Graßl muss Hilde Gerg lange geheim halten
Im selben Jahr geht es für die "wilde Hilde" zur Juniorenweltmeisterschaft in die USA. Dort trifft sie bei einer abendlichen Party auch wieder auf Graßl. Als Gerg eigentlich schon gehen will, "schmust er mich auf dem Gang nieder", erinnert sie sich lachend. Fortan sind die beiden ein Paar, müssen ihre Beziehung jedoch geheim halten, denn Graßl ist mittlerweile Assistenztrainer der deutschen Damenmannschaft.
Nach eineinhalb Jahren wird ihnen das Versteckspiel zu viel. Sie wollen ihre Beziehung öffentlich machen. Doch erst nach einer internen Besprechung der Mannschaft und des Verbands darf Graßl auch Trainer bleiben - jedoch mit strengen Auflagen. "Sei mal drei Wochen in Chile auf einem Berg und der, den du magst, ist die ganze Zeit dabei und du musst so tun, als ob du ihn nicht kennst", erinnert sich Gerg in der BR-Doku - "das war natürlich in dem Alter schon schwierig".
Nach einer schweren Verletzung kämpft sich Hilde Gerg zurück an die Spitze
Im japanischen Nagano tritt Gerg erneut bei den Olympischen Spielen an. Nach Bronze in der Kombination gewinnt die erst 22-jährige "wilde Hilde" Gold in der Abfahrt. Doch weil Graßl den Lauf gesetzt hatte, werfen einige Gerg vor, einen Vorteil gehabt zu haben. Das Paar will davon nichts hören und feiert die Medaille.
Im Verband ist die Stimmung jedoch angespannt, sodass Graßl schließlich zurücktritt. "Diese Situation hat mich belastet", gesteht Gerg. Anfang 2000 dann der nächste Rückschlag: Im Training stürzt die damals 24-Jährige schwer und muss operiert werden. Aber so? "So höre ich nicht auf!", nimmt sich Gerg vor.
Auch privat ändert sich in dieser Zeit einiges: Erst Profikarriere, dann Hochzeit - so sei lange ihr Plan gewesen. "Ich habe ja schon mal zwei Heiratsanträge vom Wofal abgelehnt", schmunzelt die Olympiasiegerin in der BR-Doku. Der habe ihr keinen mehr machen wollen, also nimmt die "wilde Hilde" es selbst in die Hand. Im Juni 2000 heiraten die beiden.
"Ich hätte so gerne so ein Abschlussrennen gehabt"
Fünfeinhalb Monate nach ihrer Verletzung gelingt Gerg die Rückkehr in den Profisport. Bei der Ski-WM in St. Anton gewinnt sie Bronze. Auch für Olympia 2002 in Salt Lake City qualifiziert sich die "wilde Hilde" und trägt bei der Eröffnungsfeier stolz die deutsche Fahne.
Nach den Spielen verletzt sie sich jedoch erneut und kommt wieder zurück, denn einmal noch will sie um olympische Medaillen kämpfen. Doch 2005, mit 30 Jahren, zwingt sie eine Trainingsverletzung dazu, ihre erfolgreiche Karriere zu beenden. "Ich hätte so gerne so ein Abschlussrennen gehabt", blickt sie etwas wehmütig zurück. Trotzdem kann sie das neue Leben, ohne den Profisport, genießen und wird 2007 und 2009 Mutter - das Familienglück ist perfekt.
Dann kommt der 12. April 2010: Graßl stirbt an einem Aortenabriss. In der BR-Doku erinnert sich Gerg an den Polizisten vor ihrer Haustür, das Blaulicht, den Notarzt und an den Moment, als ihr Mann von ihr geht: Die Zeit sei kurz stehen geblieben und "dann kommt da tatsächlich noch ein Wind", erzählt Gerg gefasst.
Hilde Gerg: "Immer vorwärts, immer weiter"
Freunde und Familien unterstützen die damals 34-Jährige mit ihren beiden Kindern, damit sie Zeit hat zu trauern. Da hätten ihr ihre Erfahrungen aus dem Sport geholfen, glaubt Gerg. Sie versucht, nach vorne zu blicken und sich selbst wieder kennenzulernen - als Alleinerziehende, als Single-Frau, als Witwe. Das Wort "Witwe", erzählt sie in der BR-Doku, möge sie allerdings bis heute nicht.
Alleinerziehend will Gerg jedoch nicht bleiben. 2013 lernt sie während ihres Studiums ihren jetzigen Ehemann kennen. Die beiden heiraten schließlich und bekommen 2015 einen Sohn. "Ich bin sehr, sehr dankbar, dass ich eine große Familie habe", sagt Gerg. "Ich kenne ja auch die Schattenseiten im Leben", erklärt sie und schmunzelt: "Darum ist die Einstellung bei mir einfach eher immer vorwärts, immer weiter, immer auch irgendwo mit einem Ziel."
"Lebenslinien: Hilde Gerg - Rasant bergab, immer wieder bergauf" ist am Montag, 20. Oktober, um 22 Uhr im BR und bereits jetzt in der Mediathek zu sehen.