Joachim Löw wird froh sein, wenn er am Dienstag seinen Platz im Flugzeug eingenommen hat. Wenn der Sonderflug LH 2018 nach Moskau um 13 Uhr in Frankfurt abhebt, dürfte der Bundestrainer hoffen, neben Deutschland auch einige Sorgen hinter sich zu lassen. Der Mann ist es gewohnt, dass es vor Turnieren hakt und scheppert. Keine Vorbereitung in seiner mittlerweile zwölfjährigen Amtszeit, in der nicht Zweifel an seiner Mannschaft aufgekommen wären. Immer aber handelten die Diskussionen von der sportlichen Eignung seines Personals. Immer beruhigte der badische Buddha Löw die Öffentlichkeit: Das werde schon. Und es wurde.

Vor der Reise nach Russland aber hat es Löw noch nicht geschafft, sich in den Mantel der Gelassenheit zu hüllen. Zu sehr arbeiten die Pfiffe gegen den eingewechselten Ilkay Gündogan beim 2:1-Sieg am Freitag gegen Saudi-Arabien in ihm. Diesmal kann er sich nicht darauf verlassen, eine Mannschaft durch systematisches Arbeiten auf die Härten einer WM vorzubereiten. Diesmal reist die Mannschaft mit Übergepäck. Sie haben beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) noch keinen Weg gefunden, das aus ihrer Sicht leidige Thema zu begraben.
Nachdem sich Gündogan und Mesut Özil zusammen mit Recep Tayyip Erdogan, dem Präsidenten der Türkei, fotografieren ließen, versuchte man, die Stimmung zu kontrollieren. Ohne Erfolg. Die beiden Spieler wurden zu Frank-Walter Steinmeier gesandt, auf dass das deutsche Staatsoberhaupt seine Absolution erteile. Er tat das. Nicht aber die deutschen Fans. Gündogan äußerte sich öffentlich. Bat um Entschuldigung, falls der Eindruck entstanden sei, er habe Wahlkampf für Erdogan gemacht. Özil schwieg.

Teammanager Oliver Bierhoff sagte kurz vor dem Spiel gegen Saudi-Arabien, dass es jetzt aber auch mal gut sei mit dem Thema. Das sahen die Fans anders. Sie bedachten Gündogan von dem Moment an mit Pfiffen, als er sich in der 56. Minute an der Außenlinie bereit machte, um für Marco Reus eingewechselt zu werden. Mit der Intensität der Ablehnung hatten die deutschen Spieler nicht gerechnet. "Das hat mich überrascht", sagte Mats Hummels. "Mit den Pfiffen wurde auch die ganze Unterstützung eingestellt. Der Fokus war nur darauf gerichtet, zu warten, bis Ilkay den Ball hat und dann zu pfeifen", beschrieb der Verteidiger die Stimmung in Leverkusen. Der zuvor passabel agierenden Mannschaft wurde der Stecker gezogen. Am Ende rettete sie einen glücklichen Sieg über die Zeit.


Als Vermittler gefragt

Löw ist nun also nicht mehr nur als sportlicher Leiter gefragt, sondern auch als Vermittler zwischen Fans, Gündogan und Özil, der am Freitag verletzt fehlte. Eine Rolle, die er so noch nie einnehmen musste. Eine Rolle, in die er noch nicht gefunden hat. Kurz nach dem Spiel sagte er: "Irgendwann ist das Thema auch mal vorbei." Ist es aber nicht. Durch das alleinige Beschwören wird es auch nicht enden.
Statt sich voll und ganz der schwankenden Statik des eigenen Spiels zu widmen und beispielsweise den Offensivspielern ihr allzu laxes Verteidigungsverhalten auszutreiben, gilt ein Teil der Konzentration der Wiedereingliederung Gündogans und Özils in die Fan-Herzen. Auch in Russland werden deutsche Anhänger die Spiele verfolgen. Es sind nicht zwingend jene, die ihr Verständnis von Patriotismus in Aufsätzen für Philosophie-Magazine ausdrücken.

Unwahrscheinlich, dass Özil und Gündogan in der derzeitigen Gemengelage eine Verstärkung für das Team sind. Es sind ein wenig mehr Widrigkeiten, die das Team diesmal ausbalancieren muss als zuletzt. Vielleicht zu viele. Dass Stützen wie Jerome Boateng oder Manuel Neuer erst verspätet und ohne Spielpraxis in die Vorbereitung einsteigen konnten - damit kennt sich Löw aus.
Das vernehmbare Grummeln nach der Streichung Leroy Sanés wird erst verstummen, wenn Marco Reus oder Julian Draxler statt seiner auf dem linken Flügel Außergewöhnliches zeigen.

von Tilmann Mehl