- Fallbeispiel: Filiz Erfurt
- Medizinische Einordnung
- Merkmale
- Hinweise und gerichtliche Urteile
- Fazit
Wer zum ersten Mal von dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom hört, ist häufig zunächst geschockt und kann nicht glauben, dass Eltern ihren Kindern so etwas antun. Wichtig ist, möglichst objektiv an die Thematik heranzugehen; denn es handelt sich um eine komplexe psychische Erkrankung, die sehr ernst zu nehmen ist und vor allem auch für die Kinder nachhaltige psychische und physische Folgen nach sich ziehen kann.
Fallbeispiel: Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
Was genau hinter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom steckt, lässt sich am besten an einem Fallbeispiel erklären. Eine unglaubliche Geschichte ist die einer Frau namens Filiz Erfurt, über die 2021 der "Spiegel" berichtete. Sie ist die Mutter von drei Söhnen, welche im Erwachsenenalter von ihrer Geschichte erzählen und feststellen müssen, dass ihre Mutter entgegen ihrer damaligen Annahme nicht immer nur das Beste für sie wollte, sondern sie mit Absicht krank gemacht hatte. Im Kindesalter redete die Mutter ihren Söhnen ein, schwerstbehindert zu sein. Vor Ärzt*innen gab sie Symptome vor, die ihre Söhne nicht hatten; so saß der jüngste Sohn sogar in einem Rollstuhl, obwohl er vollkommen gesund war.
Medizinische Unterlagen diverser Ärzt*innen berichten von einer langen Krankheitsgeschichte der Kinder, welche eigentlich nichts hatten. Regelmäßig kam das Versorgungsamt bei ihnen zu Hause vorbei, um zu prüfen, ob die Kinder tatsächlich schwerstbehindert seien. Doch bereits vor einem Besuch habe die Mutter ihren Söhnen immer genau gesagt, wie sie sich zu verhalten hatten. In dem Glauben, die Mutter wolle nur das Beste für sie, taten die Jungs, was ihnen gesagt wurde.
Irgendwann wurden die Ärzt*innen misstrauisch und alarmierten das Jugendamt. Nach einer medizinischen Untersuchung der älteren beiden Söhne konnte festgestellt werden, dass die Mutter ihnen von verschreibungspflichtigen Medikamenten teilweise die bis zu fünffache Dosis verabreicht hatte. Darunter befanden sich unter anderem Beruhigungsmittel. Es wurde aufgedeckt: Nicht die Söhne waren krank, sondern die Mutter. Diagnose: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Seinen Ursprung habe dieses vermutlich in einer Art Selbstablehnung: Während die Mutter unterbewusst ihr eigenes Selbst schädigen möchte, tut sie dies stellvertretend an ihrem Kind. Daher komme auch der Name Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Die Mutter leide folglich an einer psychischen Erkrankung, aufgrund derer sie ihre eigenen Kinder absichtlich krank macht, darin aber kein Fehlverhalten erkennen kann. Der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Lob dafür, wie gut sie ihre Kinder pflegt, stünde bei Filiz vermutlich im Vordergrund. Heute haben die Söhne nach der schweren Geschichte jeglichen Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen.
Wissenswertes rund um das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom wird auch Münchhausen-by-proxy-Syndrom (MBPS) genannt. Mit dem Syndrom befasste sich zum ersten Mal Richard Asher im Jahr 1951. In der ICD-11 wird das MBPS als Diagnose aufgeführt. Unter dem Code 6D51 wird das MBPS im medizinischen Sinne als artifizielle Störung charakterisiert. Als typische Merkmale werden das Vortäuschen und Erzeugen von Symptomen bei Dritten genannt, woraus psychische und physische Probleme für das Opfer folgen. Während sich Menschen mit einem Münchhausen-Syndrom selbst Schaden zufügen, wird bei dem MBPS einem anderen Menschen, quasi "stellvertretend", absichtlich geschadet. Somit wird das MBPS häufig als eine Erweiterung des Münchhausen-Syndroms bezeichnet.
Buchtipp: 'Proxy - dunkle Seite der Mütterlichkeit' - hier ansehenBei den Fällen, die bekannt werden, handelt sich beinahe ausschließlich um Mütter, es können jedoch auch alle anderen Bezugspersonen sein, die die seltene Erkrankung haben. Verlässliche Zahlen liegen nicht vor, geschätzt wird hingegen, dass etwa 0,4 bis 2 von 100.000 Kindern als Opfer betroffen sind. Das durchschnittliche Alter der Kinder liegt, ebenfalls geschätzt, bei etwa 3,5 Jahren. Aufgrund des MBPS entwickeln die Mütter das Verhalten, ihre eigenen Kinder krankzumachen, absichtlich zu verletzen und/oder für bestimmte Ziele zu benutzen. Im schlimmsten Fall kann es sogar passieren, dass das Kind an den Folgen der "Behandlungen" stirbt. Vor Ärzt*innen agieren die Mütter meist sehr sorgend und manipulativ: Es kann vorkommen, dass die Mütter bei einer ärztlichen Untersuchung bereits eine Verdachtsdiagnose mitbringen und Untersuchungsmethoden vorschlagen.
Motiviert werden die Mütter mutmaßlich durch die Hoffnung auf Aufmerksamkeit, Lob und Zuneigung. Indem sie sich gut um ihre scheinbar kranken Kinder kümmern, erhalten sie dies durch Ärzt*innen, das Krankenhauspersonal oder anderen Menschen aus ihrem Umfeld. Zu Ärzt*innen wird häufig eine enge, vertrauensvolle Bindung aufgebaut. Ebenso auffällig ist die Beziehung zwischen Kind und Mutter, welche in der Regel nahezu symbiotisch erscheint. Das Gefühl, eine Helferin, Pflegerin und Retterin zu sein, ist eine typische Sehnsucht von Müttern mit dem MBPS. Sie fühlen sich in der Notsituation mit ihrem Kind kompetent, in einer Art "Flow", und wissen genau, was sie tun müssen. Infolgedessen ist es den Müttern in dem Moment möglich, großes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Die Selbstbestätigung, die soziale Anerkennung und Aufmerksamkeit sowie das Mitgefühl des Umfeldes können süchtig machen. Als Kind kommt der Verdacht, dass die Mutter einen krank gemacht hat, meist erst dann auf, wenn beide Parteien getrennt voneinander leben und jegliche zuvor bestehenden Symptome plötzlich nachlassen. Schwere psychische und körperliche Schäden, die durch die oft überflüssige medizinische Behandlung der Kinder entstehen, sind keine Seltenheit und bleiben bei den Kindern oft nachhaltig bestehen. Für eine individuelle Unterstützung kann professionelle Hilfe durch eine*n Psychotherapeut*in in Anspruch genommen werden.
Gerichtliche Urteilung und die möglichen Hintergründe
Natürlich ist es immer ein Schock, wenn ein solcher Fall an die Öffentlichkeit kommt. Die Reaktionen können von Unverständnis bis hin zu Fassungslosigkeit, Ekel oder sogar Verachtung reichen. Egal ob es sich um Kinderärzt*innen, Polizist*innen, Staatsanwält*innen oder unbeteiligte Einzelpersonen handelt: Es ist wichtig, dass jede*r sich um Objektivität bemüht. Es gilt immer im Hinterkopf zu behalten, dass MBPS eine sehr seltene und komplexe Erkrankung ist und demzufolge nur wenig erforscht ist. Derzeit gibt es also noch kein so umfassendes Grundwissen, wie wir es benötigen würden, um die Erkrankung vollständig verstehen und beurteilen zu können.
Vor Gericht über Menschen mit MBPS zu urteilen, ist aus dem genannten Grund ebenfalls nur schwer. Wie ein gerichtliches Urteil aussehen könnte, hängt vom individuellen Fall ab. Das Urteil der vorsätzlichen Körperverletzung, der Kindeswohlgefährdung und der Kindesmisshandlung geht meist mit einer Haftstrafe von zwischen drei und acht Jahren und/oder einem Kindesentzug einher. Beispielhaft ist hier ein Fall zu nennen, bei dem das Landesgericht Lübeck über acht Jahre Haft für eine Mutter mit dem MBPS entschieden hat. In einem anderen Fall, in welchem bei der Mutter das MBPS festgestellt wurde, wurde beiden Eltern nach Beschluss des Oberlandesgerichtes Celle das Sorgerecht entzogen.
Wodurch MBPS entsteht, konnte noch nicht eindeutig festgestellt werden; als Ursache können aber eine Persönlichkeitsstörung oder eine traumatische Erfahrung zugrunde liegen. In vielen Fällen konnte bei untersuchten Täter*innen eine von Missbrauch oder Vernachlässigung geprägte Kindheit festgestellt werden. Erkrankte sind sich dem Syndrom meist nicht bewusst. Eine psychotherapeutische Behandlung kann Menschen mit MBPS helfen, die Ursache für und die psychische Erkrankung selbst zu bewältigen.
Fazit
Bei dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die vorwiegend bei Müttern zu erkennen ist, aber auch jegliche andere Bezugspersonen eines Kindes können daran erkranken. Die Ursache des Syndroms ist bisher nicht genau bekannt, jedoch haben viele Menschen mit dem MBPS in der eigenen Kindheit traumatische Erfahrungen machen müssen oder haben zudem eine Persönlichkeitsstörung.
Wichtig ist, im Hinterkopf zu behalten, dass es sich bei dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom um eine Erkrankung handelt. Erkrankte haben also nicht den Wunsch, dem Kind zu schaden, sondern verfolgen Ziele wie Aufmerksamkeit oder Lob. Da MBPS eine sehr seltene und komplexe Erkrankung ist, ist die Forschungslage nur dünn. Aufgrund dessen ist es wichtig, der Erkrankung möglichst objektiv entgegenzutreten, da derzeit noch nicht das benötigte Grundwissen vorliegt, das wir benötigen würden, um die Erkrankung vollständig verstehen und beurteilen zu können.
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