- Was sagt die Wissenschaft zur Wirksamkeit des Sitzenbleibens?
- Welche alternativen Ansätze gibt es?
- Weitere Aspekte: Der Freundeskreis, die Motivation und das Selbstbild
Die Zeit gegen Ende des Schuljahres kann für Kinder eine sehr aufregende Zeit sein. Wie wird es wohl im neuen Schuljahr? Doch nicht für alle Kinder geht es direkt in die nächste Klasse – es ist möglich, dass einige Kinder die Klasse wiederholen müssen. Wie sinnvoll das Sitzenbleiben eigentlich ist, ist in der Wissenschaft umstritten.
Sitzenbleiben: Das sagen Studien zur Wirksamkeit
Wird das Ziel der Klasse von einem Kind nicht erreicht, kann die Lehrkraft von ihm eine Wiederholung des Schuljahres anfordern. Wiederholt jemand ein Schuljahr, spricht man umgangssprachlich auch davon, dass er oder sie eine "Ehrenrunde dreht". Wie viele Kinder tatsächlich in Deutschland sitzen bleiben, unterscheidet sich von Schule zu Schule und von Bundesland zu Bundesland. Im April 2023 berichtete unter anderem das ZDF, dass in einer Grundschule in Ludwigshafen gleich 40 Kinder in der ersten Schulklasse sitzen blieben.
Muss ein Kind das Schuljahr wiederholen, stellt sich die Frage, wie sinnvoll dieses Vorgehen ist. Bringt es dem Kind wirklich etwas? Oder kann es sogar negative Effekte haben? Grundlegender Zweck der Wiederholung ist, die Wissenslücken aufzuarbeiten und die Lernziele zu erreichen. Ob dieses Ziel allerdings durch Sitzenbleiben erreicht werden kann, ist in der Wissenschaft umstritten.
Wie beispielsweise eine Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zusammenfasste, seien Klassenwiederholungen "teuer und unwirksam". Jahr für Jahr werde für das Wiederholen von Klassen knapp eine Milliarde Euro ausgegeben. Das Geld werde hier allerdings nicht sinnvoll ausgegeben; denn auf den Lernerfolg hat das Sitzenbleiben laut der Studie keinen positiven Effekt. Weitere Studien unterstützen die Ansicht. In der US-Studie "Peer Contexts: Do Old for Grade and Retained Peers Influence Student Behavior in Middle School?" analysierten die amerikanische Soziologin Clara Muschkin und ihr Team die Daten von 79.314 Siebtklässlern. Diese Daten kamen von 334 Schulen im US-Bundesstaat North Carolina. Das Resultat der Studie: Kinder, die sitzenbleiben, bereiten in der Schule eher Ärger.
Effekte der Wiederholung und alternative Methoden
In der Studie der Bertelsmann Stiftung wird deutlich: Kinder, die die Klasse wiederholt haben, haben weder bessere noch schlechtere Leistungen, als wenn sie nicht wiederholt hätten. Verglichen wurde hierfür die Entwicklung von Wiederholer*innen mit denen, die ebenso schwächere Leistungen aufwiesen, aber dennoch versetzt worden waren. Die, die sitzengeblieben sind, lernen also nicht mehr als die, die gerade noch so in die nächste Klasse gekommen waren. Es zeigt sich, dass Lernlücken kaum dadurch aufgeschlossen werden können, indem der Stoff noch einmal auf dieselbe Weise durchgegangen wird.
Die Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung schlägt vor, die knapp eine Milliarde Euro in eine individuelle Förderung der Kinder zu investieren. Damit ist gemeint, dass jedes Kind und jede*r Jugendliche der Ausgangspunkt für das Handeln in der Schule sein soll. Es wird ganz genau auf den Wissensstand und das Lernpotenzial geachtet. Ist jemand etwas langsamer, darf er oder sie sich dennoch seine bzw. ihre Zeit nehmen. In diesem Modell der individuellen Förderung soll die Arbeit in verschiedenen Geschwindigkeiten ermöglicht werden. Allerdings soll niemand vergessen werden: Jene, die schnell arbeiten, sollen gefordert und nicht gebremst werden. Alle, die leistungsschwächer sind, sollen hingegen gefördert und unterstützt werden.
Die Studie weist darauf hin, dass eine gute Bildung die Voraussetzung für die aktive Teilhabe eines Menschen an der Gesellschaft ist. So beeinflusst die Bildung unter anderem das individuelle Lebenseinkommen, die Höhe von Steuerzahlungen, die Lebensführung, das gesellschaftliche Engagement und die politische Partizipation. Es ist also sinnvoll, das Sitzenbleiben aufgrund der fehlenden wissenschaftlich belegten Vorteile noch einmal zu überdenken. Möglicherweise könnte man das Sitzenbleiben auf bestimmte Schularten oder Jahrgangsstufen begrenzen, oder ein individuelles Förderprogramm entwickeln.
Weitere Aspekte: Der Freundeskreis, die Motivation und das Selbstbild
Nicht nur in Bezug auf die zukünftigen Noten und die Lernziele hat das Sitzenbleiben einen Effekt. Muss ein Kind eine Klasse wiederholen, wird es von seinen Freund*innen in der vorherigen Klasse getrennt. Kinder können das Sitzenbleiben als eine Botschaft dafür empfangen, dass sie versagt hätten.
Denkt dein Kind, es hätte versagt, kann dies seinem Selbstbild schaden. Und nicht nur das: Auch die Motivation kann deutlich nachlassen. Dieser Vermutung entgegensetzen könnte man, dass Kinder sich auch kompetenter und selbstbewusster in der neuen Klasse fühlen. Immerhin haben sie schon eine Art Entwicklungsvorsprung und wissen vielleicht mehr als die jüngeren in der Klasse.
Im Kontrast zur Leistungsentwicklung gibt es für diesen Bereich allerdings keine eindeutigen Studien. Dies kann unter anderem daran liegen, dass Motivation und das Selbstbild schwer messbar sind. Zudem ist jedes Kind anders und geht dementsprechend anders mit dem Sitzenblieben um.
Fazit: Vorteile des Sitzenbleibens sind nicht nachgewiesen
Im deutschen Schulsystem ist das Prinzip des Sitzenbleibens fest verankert. Wie sinnvoll diese Maßnahme ist, wird allerdings wissenschaftlich stark diskutiert. Klar erwiesene Vorteile gibt es bislang jedoch nicht. Aufgrund der hohen Kosten für das Sitzenbleiben könnte über einen neuen Ansatz nachgedacht werden, der stärker auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingeht. So kann eine zielgerichtete Bildung und Aufarbeitung von nicht verstandenem möglicherweise besser gelingen.