- Wie werden Kinder selbstständig?
- Bildung von Persönlichkeit
- Was Kinder lernen müssen und Eltern wissen sollten
- Hilfestellungen für den Weg zur Selbstständigkeit
Eine gute Kinderstube gilt gemeinhin immer noch als beste Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Die genauen Vorstellungen über eine solche "gute Kinderstube" und ein gelungenes Leben gehen dabei oftmals auseinander. Zum Beispiel aus kulturellen und religiösen Gründen oder aus verfestigten Ansichten, die durch die selbst erlebte Erziehung und Sozialisierung geprägt wurden. Manchmal fehlen auch wichtige Grundlagen wie Bindung, Urvertrauen, Zuwendung oder Vorbildfunktion und damit Leitbilder zur Orientierung. Nach Auffassung von Frau Dr. Erika Butzmann greifen zum Erreichen von Selbstständigkeit bei Kindern keine klassischen Erziehungsmethoden. Vielmehr entwickle sich Selbstständigkeit durch Bindungsbeziehungen und den natürlichen (genetisch bedingten) Drang, selbstständig sein zu wollen. Dementsprechend formuliert Butzmann die These, dass Selbstständigkeit nur zugelassen und unterstützt, aber nicht anerzogen werden kann. Frau Dr. Erika Butzmann hat im Jahr 2000 ihre Promotion zur sozial-kognitiven Entwicklung im Kindesalter abgelegt und ist seitdem in der Elternberatung und in der Weiterbildung für Erzieherinnen tätig. Im Zeitraum von 2002 bis 2008 hatte sie Lehraufträge an der Universität Bremen inne.
Wie werden Kinder selbstständig?
Nach Butzmann prägt sich in den ersten 24 Lebensmonaten eine sichere Eltern-Kind-Bindung. Innerhalb der sog. Vorbindungsphase in den ersten zwei Monaten, sucht der Säugling kontinuierlich den Kontakt zu seiner Hauptbindungsperson. Dabei helfen angeborene soziale Verhaltensweisen wie bspw. umklammern, anschmiegen, anschauen, anlächeln oder auch schreien. In dieser Phase kommt dem Verhalten der primären Bindungspersonen, i. d. R. also den Eltern, eine bedeutende Rolle zu. Zuwendungen in Form von Beruhigung, Trösten, liebevollen Berührungen, einem sicheren Halten sowie einer empathischen Ansprache stärken die Bindung.
Eltern-Ratgeber 'Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen: (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)' - hier direkt ansehenIn der Krabbelphase wird die Bindung erstmals auf die Probe gestellt. Das Kind spürt, dass es sich durch seine Fortbewegungen aus der bisher engen Einheit, häufig vor allem mit der Mutter, löst. Dies ruft i. d. R. existenzielle Trennungs- und Verlassenheitsängste hervor, wenn die Bindungsperson nicht in Sicht- oder Hörweite ist, denn in dieser Phase besteht noch keine durchgehende Erinnerungs- und Interpretationsfähigkeit. So ist das teils heftige Anklammern an die Mutter zu erklären, wenn diese dann wieder präsent ist. Dieses Klammerverhalten entspricht einem Bindungsverhalten, worauf nicht abweisend, sondern zuverlässig, beruhigend und positiv eingegangen werden sollte. Eine sichere Eltern-Kind-Bindung im ersten Lebensjahr, die sich während des zweiten und dritten Lebensjahres weiter verfestigt, bildet die existenzielle Basis.
Diese ist notwendiger Ausgangspunkt dafür, dass das Kind sich den anstehenden vielfältigen Lernprozessen zuwenden kann. Die Vaterbindung erfolgt nach Butzmann übrigens andersartig. Sie entwickelt und intensiviert sich über das gemeinsame Spiel und Spaß mit dem Vater parallel, wenn er Präsenz zeigt.
Biologische Antriebe
Biologische Antriebe wie das Erkundungsverhalten, die Wissbegierde, das Spielen und die Nachahmung erzeugen bei Kleinkindern erste Gefühle der Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit. Dafür müssen jedoch die Voraussetzungen in Form einer sicheren Bindung und einer sicheren Umwelt gegeben sein. Beim Erkundungsverhalten geht das Kleinkind auf eine wichtige Forschungsreise. Auf diesem Wege werden Eigenschaften von Dingen erfahren und Reaktionen registriert: Welche Geräusche entstehen, wenn Gegenstände herunterfallen? Wie reagieren die Eltern, wenn das beabsichtigte Herunterwerfen häufig wiederholt wird?
Das Kind erwartet, dass es den Gegenstand von den Eltern immer wieder zurückerhält. Ebenso fällt in diese Entwicklungsphase das spannende Ereignis, dass Dinge verschwinden und wieder auftauchen können. Beliebt sind zu dieser Zeit deshalb die "Guck-Guck-Da-Spiele". Neben der Wissbegierde (Anziehungskraft von Neuem) kommen dem Spiel und der Nachahmung zentrale Bedeutung zu. Spielen dient als Mittel zum Zweck. Es werden dabei verschiedene Fähigkeiten eingeübt, ein Verständnis der Umwelt wird gebildet und es werden die Grundlagen für ein selbst gesteuertes Lernen gelegt.
Über die spielerische Wahrnehmung und das entsprechende Handeln werden die Dinge erst begriffen. Körper, Verstand und Persönlichkeit brauchen daher das Spiel zur Schärfung der Sinnesorgane, zur Ausbildung von Körperhaltung und Bewegung sowie dem Denken, der Sprache und sozialem Verhalten. Letztlich entwickelt sich über den biologischen Antrieb der Nachahmung die Vorstellungsfähigkeit, die Sprache und das erste wirkliche Wissen über sich selbst und die Umwelt. Kleinstkinder lernen von Beginn an über Nachahmung. Dessen sollten sich alle engeren Bezugspersonen bewusst sein.
Entwicklung von Selbstständigkeit
Mit ca. vier Jahren bildet sich ein erstes Bewusstsein der eigenen Selbstständigkeit heraus. Jetzt gelangen die bis dahin lediglich vorbewussten und meist auf emotionaler Ebene gesammelten Erfahrungen über sich selbst, die Bezugspersonen und die Umwelt ins Bewusstsein des Kindes. Ab diesem Zeitpunkt richtet sich die Aufmerksamkeit vermehrt auf die eigenen Emotionen, Handlungen und Gedanken. Das Kind vergleicht sich vermehrt mit anderen. Was können die und was kann ich?
Warum verhalten die sich anders als ich? Gut gebundene Kinder spüren einen natürlich starken Drang zu selbstständigem Handeln, wobei hinter dem "ich-will-jetzt-alles-alleine-machen" noch keine Vorstellung davon besteht, was Selbstständigkeit bedeutet. Was fehlt, ist die Erkenntnis des Zusammenhangs zu Alltagsfertigkeiten wie zum Beispiel bei: "Ich ziehe mir die Schuhe selber an". Von Interesse ist dabei im Wesentlichen, dass es etwas im Vergleich zu anderen Kindern besser kann. Es dominiert eine Ich-Bezogenheit. Daher ist das Kind auch vorwiegend mit seinem eigenen Können und Wissen beschäftigt und möchte dafür ständig gelobt werden. Alle sollen nun wissen, was es schon alles kann: klettern, springen, rennen, hüpfen, werfen, balancieren, Fahrrad fahren.
Dies ist eine entscheidende Phase für die Bildung des Selbstbewusstseins, Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls. Mit den vielleicht die Umwelt nervenden "Warum-Fragen" nimmt der Wortschatz schnell zu und der große Wissensdurst wird gestillt. Das Kind lernt hier viel über das Funktionieren von Dingen, Verhaltensregeln und vor allem, was Mama und Papa mögen und was sie nicht so gerne mögen. Einen bewussten Zusammenhang von Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit entwickeln Kindern erst ab dem fünften Lebensjahr.
Bildung von Persönlichkeit
Für Erwachsene dienen individuell verschiedene und subjektiv gefärbte Erwartungshaltungen als Leitmotiv für das Denken und Handeln. Weitestgehend sind diese Erwartungshaltungen ein Resultat aus unbewussten und bewussten Lernprozessen, angestoßen durch individuelle Umweltbedingungen, Sozialisierung und bewertete Erfahrungen. Dies sind die grundlegenden Ressourcen, auf die Eltern im Rahmen ihrer Erziehungsarbeit zurückgreifen. Die Vorstellung eines selbstständigen Kindes wird demnach geprägt und ist gefärbt durch subjektive Lebenserfahrungen und deren Bewertungen.
Die resultierenden Erwartungshaltungen dienen folglich als Leitmotiv bei der Erziehung. Lange Zeit galt in der Hirnforschung die Annahme, dass Dopamin für das Glücksgefühl verantwortlich ist, wenn sich die Erfüllung unserer Erwartungen und Sehnsüchte einstellt. Hierfür sind jedoch die körpereigenen Opioide (Endorphine, Serotonin, Oxytocin) zuständig. Neueren Erkenntnissen zufolge übernimmt das Hormon Dopamin jedoch die Rolle des Neurotransmitters der konkreten Belohnungserwartung. Es ist also nicht der Zustand selbst (viel Geld besitzen, Urlaubsreise oder eben ein selbstständiges Kind haben), der die Ausschüttung von Dopamin veranlasst.
Vielmehr sind es bereits die bloßen erwartungsfrohen Vorstellungen, die für diese Hormongabe verantwortlich zeichnen. Die inneren Erwartungen sind demnach mit der Transmitterausschüttung eng verknüpft und lassen das mesocortikolimbische System reagieren. Es steuert über die Hormonausschüttung maßgeblich den Antrieb und die Motivation einer Person. Damit erklärt sich mitunter eine hohe erwartungsgelenkte Erziehungsmotivation bei Eltern.
Belohnungssystem
Besonders viel Dopamin fließt, wenn unerwartet eine spezielle (zielgerichtete) Erwartung übererfüllt wird, z.B. bei einem vermeintlichen Erziehungserfolg. Sehr geringe Dopaminwerte ergeben sich, wenn die Erwartung auf eine erhoffte Belohnung versagt bleibt (Erziehungsmisserfolg) und man stark enttäuscht zurückbleibt. Im mittleren und eher unterem Wertebereich bewegt sich Dopamin bei unspezifischen, generalisierten bzw. mit geringer emotionaler Relevanz verbundenen Alltagserwartungen. Neurowissenschaftler postulieren daher das negative oder positive Ausmaß eines "Vorhersagefehlers" als Ursache für die ausgeschüttete Menge an Dopamin.
Unser Gehirn lernt dabei vor allem in neuen und unerwarteten Situationen und passt sich besonders nach unerwartet starken oder schwachen Dopaminreizen den veränderte Gegebenheiten an. Weil es letztlich doch die Erwartungen sind, die uns motiviert handeln lassen, gibt es Bestrebungen, das Belohnungssystems in "Motivationssystem" umzubenennen. Ein solches Belohnungssystem wird in der Kindererziehung sehr gerne eingesetzt, um Kinder (allerdings nur extrinsisch) zu motivieren, etwas zu tun oder sein zu lassen. Da es sich um einen wechselseitigen Prozess handelt, lernen Kinder umgekehrt sehr schnell, welche Erwartungen elternseitig an sie geknüpft werden.
Das kann ihr Verhalten dahingehend lenken, dass sie angepasst alles versuchen, die Erwartungen zu erfüllen, um eine Belohnung in Form zugewandter, stolzer und glücklicher Eltern zu erlangen. Nicht angepasste Kinder können identifizierte Erwartungen der Eltern auch bewusst konterkarieren, entsprechend rebellieren und damit ihrem höchst subjektiven Belohnungssystem einen Gewinn entnehmen.
Persönlichkeitsbildung
Welche Vorstellungen wir im Allgemeinen vom Leben und seinem Gang entwickeln und welche Erwartungen sich daraus im Laufe der Zeit ableiten, basiert auf einer komplexen Kombination aus genetischen Dispositionen, Umweltbedingungen, Sozialisierung, erlebten Erfahrungen und den in Folge bewerteten Lernprozessen. Diese Erkenntnis ist erwachsen aus einer teils erbitterten Auseinandersetzung der gegenteiligen Denkrichtungen von "Erziehungspessimismus" und "Erziehungsoptimismus". Im ersten Fall war man der Auffassung, dass ausschließlich die genetischen Anlagen dafür verantwortlich sind, wie man durch das Leben geht.
Der Erziehungsoptimismus dagegen vertrat die Ansicht, dass durch die "richtige Erziehung" alles möglich sei, damit man gut (im Sinne einer gesellschaftlich normierten Erwartung) im Leben zurechtkommt. In seinem Buch "Coaching, Beratung und Gehirn" kommt der bekannte, am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen tätige Verhaltensphysiologe und Entwicklungsneurobiologe Prof. Gerhard Roth zu dem Ergebnis, dass sich "genetische und epigenetische Vorbedingungen sowie Umweltbedingungen im Gehirn eines Menschen unauflöslich miteinander verbinden, und dass es genau diese Verbindung ist, die unsere Persönlichkeit formt."
Zu gleichen Resultaten kamen Forscher der Charité Berlin. In ihren Untersuchungen schlussfolgerten sie, dass "Umwelteinflüsse, zum Beispiel Stress und belastende Erfahrungen, [...] die Aktivität von Genen beeinflussen und zu individuellen Strukturveränderungen am Erbmaterial führen [können.]" Dieses veränderte Erbmaterial kann dabei sogar an die nächste Generation von Zellen weitergegeben werden. Letztlich sind es damit auch die Erwartungshaltungen der entwickelten elterlichen Persönlichkeiten, die auf den Nachwuchs projiziert werden und mitunter den Erziehungsstil prägen und damit die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder mindestens beeinflussen.
Was Kinder lernen müssen und Eltern wissen sollten
Resilienz
Bis hierhin zusammenfassend, beginnen die Entwicklung bzw. die Bildung von Voraussetzungen von Selbstständigkeit bereits vorgeburtlich und erfahren unmittelbar nach der Geburt ihren kontinuierlichen Fortgang. Als zunächst hilflose Wesen sind Säuglinge, abgesehen von ihrer biologischen und genetischen Disposition, sehr abhängig von den u.U. prägenden Umwelteinflüssen ihrer unmittelbaren Umgebung. Das Lernpensum von Kleinstkindern ist in den ersten Lebensjahren immens und die Herausforderungen sind groß, da sie noch auf keine einordnenden Erfahrungen zurückgreifen können. Umgekehrt entstehen auch für die Eltern maximale Anstrengungen, da sie neben ihrem beruflichen und privaten Leben die Verantwortung für das Neugeborene und seine Bedürfnisse übernehmen müssen.
Je nach Persönlichkeit, den aus dem eigenen Lebenskontext entwickelten Einstellungen und den wiederum darauf basierenden Erwartungen, werden sie ihre Erziehungstätigkeit aufnehmen. Hilfreich nicht nur in dieser Phase ist Resilienz, verstanden als psychologische Widerstandskraft und besondere Belastbarkeit im Umgang mit schwierigen Situationen und Ereignissen. Diese ist übrigens nach neuestem Stand der Resilienzforschung nicht angeboren und kann erlernt werden. Gleichwohl steht fest, dass genetische bzw. biologische Faktoren nicht gänzlich unbedeutend sind in Bezug auf die Ausbildung von Resilienz. Diese Faktoren geben sozusagen den individuellen Rahmen vor, innerhalb dessen sich Resilienz entwickeln kann. Hier sind die HPA-Achse und die genetische Risikovariante FKBP5 von Bedeutung.
Urvertrauen
Mit die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung von Selbstständigkeit ist das sog. "Urvertrauen". Kleinstkinder und heranwachsende Kinder sollten sich idealerweise einer bedingungslosen Liebe sicher sein, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg. Diese Liebe trägt sie in Form von Anerkennung, aber auch von Trost und motivierendem Zuspruch, wenn mal was nicht funktioniert hat. Ein solch stabiles soziales und psychologisches Fundament bietet in der Regel gute Voraussetzungen für die Entwicklung und Ausbildung von Selbstständigkeit. Gleichwohl bietet es keine Garantie.
Denn auch umgekehrt ist es durchaus möglich, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen, auch wenn in der Kindheit nicht alles rosarot gewesen ist. Bestes Beispiel ist eine ganze Nachkriegsgeneration, die sicher situationsbedingt nicht viel bedingungslose Liebe, tröstende Zuwendung oder motivierenden Ansporn erfahren hat. In solchen Umweltbedingungen kommt es tatsächlich auf die entwickelte Persönlichkeit an.
Eine gewisse genetische Disposition, situativ erlernte Verhaltensweisen sowie einige glückliche Umstände im Leben, wie z. B. das Treffen auf eine vertrauensvolle und Stabilität gebende Bezugsperson, können einem bis dahin eher dornigen Lebensweg eine entscheidende Wendung geben. Zumal mit dem heutigen Wissen gerade pädagogisch durchaus kritisch gesehen wird, wenn Kinder mit zu viel, zu gut verstandener Liebe und Fürsorge (Helikoptereltern) überschüttet werden. Was in Elendssituationen zu wenig an Zuspruch und Stabilität vorhanden ist, kann in einem Wohlstandsumfeld für eine gesunde Entwicklung zu viel und nicht förderlich sein.
Bedingungslose Elternschaft
Alfie Kohn ist Autor des viel beachteten Buches "Liebe und Eigenständigkeit – die Kunst bedingungsloser Elternschaft jenseits von Belohnung und Bestrafung*". Er führt u. a. darin einleitend aus, dass die meisten Erziehungsansätze immer noch darauf basieren, Kindern nur dann Aufmerksamkeit, Liebe und Zuwendung zu schenken, wenn sie sich erwartungsgemäß verhalten. Hingegen würde ein als unangemessen empfundenes Verhalten oftmals noch mit Ignoranz, Abwendung und Schimpftiraden bestraft. Letztlich also mit Liebesentzug.
Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten die Erziehungsmethoden geändert hätten und pädagogisch wertvolle Konzepte eingeführt wurden, so bliebe das Erziehungsziel doch seit Jahrhunderten für die meisten Eltern flächendeckend gleich: "Kinder, die sich angemessen im gesellschaftlichen Rahmen bewegen, die tun, was man ihnen sagt und die nicht durch schlechtes Benehmen auffallen." Eine autoritäre und durchsetzungsstarke Erziehung, bei der Eltern von ihrer elterlichen Macht (durchaus im "gut" gemeinten Sinne) redlich Gebrauch machten, brächten dabei zwei verschiedenen Verhaltensweisen zutage – nämlich übermäßig folgsame und übermäßig aufsässige Kinder. Erstere wären zwar folgsame und bequem zu handhabende Kinder, jedoch ließe sich diese Angepasstheit in der späteren persönlichen Entwicklung nicht unbedingt zum Vorteil wiederfinden. Rebellierende Kinder würden dagegen zunächst noch erst gegenüber Altersgenossen aggressiv, später, wenn auch physische Stärke vorhanden ist, übertrügen sie dieses Verhalten auch gegenüber den Eltern.
Letztlich formuliert der Autor Grundsätze einer bedingungslosen Elternliebe und nennt insbesondere drei wichtige Prinzipien: Liebe ohne Wenn und Aber, ein Mitspracherecht für Kinder und die regelmäßige Einnahme der Perspektive des Kindes. Was sich weich liest, bedeute im Alltag jedoch harte Arbeit. Denn damit ist nicht gemeint, sich von den Sprösslingen auf der Nase herumtanzen zu lassen. Es bedarf eines durchaus reflektierenden und grundsätzlich empathischen Grundverständnisses sowie Resilienz, die Entwicklungsphasen des Nachwuchses altersgerecht zu unterstützen. Wichtig ist dabei, früh damit zu beginnen, Kindern verständlich zu machen, was ihre Handlungen bei anderen auslösen. Dann, so Alfi Kohn, wären Kinder viel eher geneigt, diese zu überdenken. Zu solchen Interaktionen sind Kinder jedoch erst, wie oben bereits erwähnt, mit etwa fünf Jahren fähig. Bis dahin gilt es, die emotionalen und bindungsrelevanten Grundlagen zu schaffen.
Hilfestellungen für den Weg zur Selbstständigkeit
Freiräume geben, Eigeninitiative fördern und Erfahrungen zulassen
Wie die Erwachsenen, brauchen auch Kinder ihren Raum, in dem sie sein dürfen. Oftmals dringen Eltern und Bezugspersonen jedoch, gar nicht mal in böser Absicht, unvermittelt in diesen Raum ein. Sie wollen wissen, was gerade passiert und bei Bedarf eingreifen. Sorge und Angst sind bei Eltern etwas Normales und in einem gewissen Ausmaß auch im Rahmen der Aufsichtspflicht und der Übernahme von Verantwortung notwendig. Dennoch gilt zugleich, Kinder auch mal machen zu lassen. Gerade in der Phase des "ich-will-das-alleine-machen" sollten Eltern dem Kind Chancen ermöglichen und Eigeninitiative fördern, dabei natürlich mögliche Gefahren im Blick behalten. Der Klassiker ist das Klettergerüst im Garten oder auf dem Spielplatz. Es ist zugegeben ein schmaler Grat zwischen der ermutigenden Aufforderung ("ja, klettere ruhig, du wirst das schon schaffen") und dem verängstigten Reflex ("Vorsicht, nein bloß nicht, dafür bist du noch zu klein").
Letztlich gehören auch die Erfahrungen, vom Gerüst oder einem Baum fallen zu können, zu den wichtigen Lebenserfahrungen. Mütter und Väter dürfen und sollten bei gemeinsamen Spielplatzbesuchen immer in der Nähe sein und dabei Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Vielleicht sprechen sie vorher mit dem Kind, dass sie es gerne machen lassen wollen, für den Fall der Fälle aber genauso gerne schnell bereitstehen. Denn die Aufmerksamkeit der Eltern ist bei den Kindern schon erwünscht, schließlich wollen sie ja im Erfolgsfall gelobt und bei Misserfolg auch getröstet werden. Wenn die Eigeninitiative und Erfahrungen zugelassen werden, fördert dies Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein in der Form, dass das Kind befähigt wird, eigene Entscheidungen abzuwägen und treffen zu können.
Konflikte und Problemlösungen
Die Kompetenz, soziale Konflikte austragen und auftretende Probleme lösen zu können, gehört zu den wesentlichsten Befähigungen im Leben. Nehmen Eltern ihrem Kind diese notwendigen Erfahrungen ab, indem sie die Konflikte und Probleme ihrer Kinder auf Art von Erwachsenen lösen, verhindern sie wichtige Lernprozesse. Auf lange Sicht kann das sogar zum Effekt einer erlernten Hilflosigkeit führen, mit der Folge, dass sich das Kind schnell als Opfer von Gegebenheiten fühlt und keine eigenen Lösungsstrategien entwickeln kann. Die erste Sozialisierung mit Fremden passiert i. d. R. mit dem Eintritt in den Kindergarten.
Hier trifft das Kind auf Gleichaltrige und die Kämpfe und das Gerangel um Förmchen, Eimer, Auto oder Ball ist unvermeidbar und schult für das spätere Leben. Nur in der Auseinandersetzung lernt das Kind, sich durchzusetzen und damit Selbstständigkeit zu erfahren. Als Eltern kann und soll man daher nicht jeden Konflikt und jedes Problem der Kinder lösen oder gar im Vorhinein verhindern. Gleichwohl sollten Eltern diese Konfliktsituationen begleiten und ggf. auffangen. Etwa, indem ihr im Nachgang darüber sprecht und gemeinsam Alternativen oder Kompromisslösungen findet.
Das wird umso wichtiger in Zeiten einer frühzeitigen Sozialisierung durch Internet und Sozialen Medien wie TikTok und Co. Allerdings sollten die Kinder immer aktiv dazu angeleitet werden, eigenständige Lösungen suchen zu dürfen und nicht die der Eltern zu übernehmen.
Verantwortung, Erfolg und Frust
Im späteren Alter, aber auch nicht zu spät, ist es wichtig, den Kindern Verantwortung zu übertragen. Das beginnt eventuell mit bestimmten Aufgaben im Haushalt und insbesondere für die Herstellung von Ordnung im eigenen Zimmer. Ein wichtiger Lernprozess ist, zu erfahren, dass ohne Regeln ein Miteinander nicht geht. An diese Regeln sollten sich alle Familienmitglieder halten. Handyverzicht bei den Mahlzeiten gilt auch für ältere Geschwister und die Eltern. Ebenso Regelungen für Dinge wie die Spülmaschine ein- und auszuräumen, zu staubsaugen, den Rasen zu mähen oder den Müll wegzubringen.
Kinder müssen lernen, dass Freiheit Grenzen hat und keinen individuellen Dehnungsbereich darstellt. Leben Eltern die aufgestellten Regeln konsequent vor und lassen sich dabei auch mal korrigierend ertappen, entwickeln Kinder ein Gefühl für Verlässlichkeit und Verantwortung. Sie werden erfahren, dass Freiheit auf der einen Seite genießbarer ist, wenn sie sich auf der anderen Seite an Regeln halten. Wichtig sind zudem Erfolgserlebnisse, aber auch der Umgang mit Misserfolgen. Dinge, die gelingen, stärken das Selbstbewusstsein und das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Wenn etwas nicht perfekt ist, nicht auf Anhieb funktioniert oder auch gar komplett misslingt, dann ist auch Frust, Ärger und Wut erlaubt. Da im Leben Misserfolge nicht ausbleiben, ist es wichtig frühzeitig zu lernen, damit umzugehen.
Es wäre fahrlässig, Kinder davor bewahren zu wollen zu "scheitern". Bedeutend in dem Zusammenhang ist der Lerneffekt, dass traurige, wütende und negative Gefühle völlig in Ordnung sind und aus ihnen Schlüsse zu ziehen sind, die den Umgang mit solchen Situationen schulen. Denn das hat u. a. wesentlichen Einfluss auf die Bildung der eingangs erwähnten Erwartungshaltungen.
Fazit: Selbstständige Kinder sind kein Selbstläufer
Als Fazit lässt sich resümieren, dass selbstständige Kinder keinesfalls ein Selbstläufer und auch kein Erziehungsprodukt sind. Neben genetischen Dispositionen und der eigenen dynamischen Persönlichkeitsentwicklung, sind immer auch noch das Umfeld, die Sozialisierung und die hier gemachten Erfahrungen von großer Bedeutung. Eltern können dabei überwiegend auf Ressourcen der eigenen Persönlichkeit zurückgreifen. Die Projektion eigener Erwartungshaltungen auf die Kinder sowie der Versuch, Selbstständigkeit durch Erziehung herzustellen, wird von erfahrenen Experten und Expertinnen kritisch gesehen. Im Sinne einer wirklichen Selbstständigkeit bleibt Eltern daher die verantwortungsvolle Aufgabe, sehr achtsam und empathisch die Entwicklung ihres Nachwuchses zu begleiten. Damit ist keinesfalls eine antiautoritäre oder Laissez-faire-Erziehung gemeint. Es gehört auch dazu, Grenzen zu erfahren, zu akzeptieren und zu respektieren. Letztlich gilt, reflektiert und lenkend Einfluss auf das Werden des Kindes zu nehmen, ohne zu sehr eigene Anteile übertragen zu wollen.
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