Ein Viertel aller Kinder in Deutschland wächst laut Statistischem Bundesamt ohne Geschwister aufIm Vergleich zu vergangenen Jahrhunderten ist das viel – früher waren mehr Kinder in der Familie normal. Dem Statistischen Bundesamt zufolge ist die Zahl seit 2001 ungefähr gleichbleibend. Ob es besser oder schlechter ist, Geschwister zu haben, lässt sich nicht sagen. Feststeht jedoch, dass Geschwister und die Beziehungen zu ihnen einen Einfluss auf die eigene Entwicklung haben.

Konflikte und Unterstützung: Das lernen wir mit Geschwistern

Geschwisterbeziehungen sind trotz ihrer Bedeutung für die Entwicklung noch nicht lange Gegenstand der Forschung. Das bestätigt die Erziehungswissenschaftlerin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Dr. Inés Brock und erklärt gleichzeitig, dass die Beziehung unter Geschwistern "die am längsten währende familiäre Beziehung" sei. Auch wenn der Kontakt unterbrochen ist, bestehe eine Bindung und ein andauernder, häufig unbewusster Einfluss auf eigene Verhaltensmuster. "Unzählige Erlebnisse, Gefühle, Reaktionsmuster und sogar Charakter prägende Erfahrungen sind mit Geschwistern verbunden, auch wenn ein erheblicher Teil davon vergessen, verdrängt oder gar verleugnet werden kann", weiß der Schweizer Psychologe Prof. Dr. Jürg Frick.

Geschwister prägen uns also in verschiedenen Bereichen und prägen bestimmte Verhaltensmuster. So zum Beispiel das Verhalten in Konfliktsituationen und sozialen Beziehungen. In Geschwisterbeziehungen Konflikte offen austragen zu können, trage laut Inés Brock dazu bei, zu lernen, selbstständig Konflikte zu lösen. Außerdem könne in Alltagssituationen generell das soziale und emotionale Verhalten in Gruppen geübt werden. Gleichzeitig können uns eben die Beziehungsmodelle, die wir in der Kindheit und Jugend erfahren, für unser Leben prägen. Wenn wir immer wieder Schwierigkeiten in der Partnerschaft haben oder dieselben Konflikte mit unserer Chefin austragen, könnte das auf unsere Geschwisterbeziehung zurückzuführen sein.

Geschwister können beim Aufwachsen einander auch Hilfe und Unterstützung sein. Einerseits, indem die Jüngeren von den Älteren lernen und so manches schon früher als Einzelkinder im selben Alter können. Andererseits, indem sie sich gegenseitig stützen: "Wer sich in der wichtigen Zeit des Erwachsenwerdens auf eine verständnisvolle Schwester abstützen kann, verfügt über eine unschätzbare Hilfe", erklärt Jürg Frick. Auch das kann Auswirkungen auf unsere Persönlichkeit haben, weil wir Vertrauen in Menschen aufbauen und lernen, Hilfe anzunehmen und Hilfe anzubieten

Feste Rollen und Eifersucht – so prägt uns die Erziehung

Was wir uns mit Geschwistern auch aneignen, sind eigene Rollen und Strategien, um die Aufmerksamkeit und Liebe unserer Eltern zu bekommen. Schließlich ist das die wichtigste Währung für Kinder, die abhängig von ihren Eltern sind. Jürg Frick erklärt auf eltern-bildung.at: "Kinder erlernen Rollen, um bei den Eltern Zuwendung, Anerkennung und Liebe zu erhalten. Dazu entwickeln sie ein breites Spektrum von Strategien, die sie häufig bis ins Erwachsenenalter oder gar das ganze Leben lang behalten und verfeinern." Daraus ergeben sich zwei prägende Einflüsse auf die Persönlichkeit: zum einen die Rolle, die jedes Familienmitglied für sich annimmt und mitunter ein Leben lang behält, und zum anderen die Fähigkeiten und Interessen, die sich jedes Geschwisterkind aneignet, um sich abzugrenzen und zu behaupten. Letzteres dient auch der eigenen Identitätsfindung

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Bei all dem, wie sich Geschwister gegenseitig prägen, spielt ein Faktor eine entscheidende Rolle: das Verhalten der Eltern und ihre Erziehung. "Wie Eltern im Alltag auf ihre Kinder eingehen, ob sie Konkurrenz zulassen, ein Kind bevorzugen oder auf eine faire und gerechte Behandlung aller achten (…) – das alles beeinflusst das Verhältnis der Geschwister untereinander", schreibt Martina Hinz in ihrem Artikel bei Psychologie Heute. Aus einer ungleichen Behandlung kann Eifersucht entstehen. Dieses Gefühl kann gesund sein, wenn es auf konstruktive Weise anspornt und niemandem schadet. Es kann aber auch zu Schmerz führen und dem nachhaltigen Eindruck, weniger geliebt zu werden oder zweitrangig zu sein. Diesen Schmerz sowie die starre Rolle, die uns unsere Eltern zugewiesen haben können, nehmen wir häufig mit in unser erwachsenes Leben, wie Jürg Frick schildert.

Um zu verstehen, und auf psychologischer Ebene zu hinterfragen, welche Einflüsse die familiäre Situation tatsächlich auf das eigene Leben hat, gibt der Schweizer Psychologe einen Rat: Er empfiehlt die individuelle Analyse von Rollen, Eltern-Kind-Beziehungen, dem Geschlechterkontext, Erwartungen und Reaktionen und der persönlichen Wahrnehmung aller Geschwister. Der letztendliche Einfluss kann nicht pauschalisiert werden. Martina Hinz gibt in ihrem Text bei Psychologie Heute außerdem hilfreiche Tipps, wie Geschwister ihre Beziehung verbessern können. Dazu gehört: gemeinsame Rituale zu etablieren, Erinnerungen miteinander zu teilen, die eigenen Gefühle zu kommunizieren, Ungerechtigkeiten zu benennen, die Perspektive der anderen einzunehmen oder auch mal Abstand zu wagen.

Fazit: Die Familie hat großen Einfluss

Neben der Beziehung zu unseren Eltern oder Erziehungsberechtigten sind die Beziehungen zu unseren Geschwistern die ersten in unserem Leben. Sie prägen uns auf besondere Weise für unser späteres Leben: Sie beeinflussen unser Urvertrauen, unser Verhalten in Beziehungen, unseren Umgang mit Konflikten, unser Kommunikationspotential, unser Emotionsmanagement, unsere Rolle in der Familie, unsere Fähigkeiten und Strategien und auch unsere Schmerzthemen. Unsere Geschwister spielen dabei eine ebenso große Rolle wie unsere Eltern, deren Erziehung und das gesamte Familiengefüge. Inwiefern uns nun was und wie stark in unserer persönlichen Entwicklung geprägt hat, müssen wir jedoch individuell feststellen.

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