Erziehungsberatung muss sich fortwährend dem Wandel der Gesellschaft anpassen. Wie das den Pädagoginnen und Psychologinnen der Caritas Forchheim seit vier Jahrzehnten gelingt, darüber sprechen die Leiterin der Beratungsstelle, Helene Wölfel-Wagner (54), und Andrea Dietz-Ernst (58), die auf 30 Jahre als Beraterin zurückblickt.

Ist Erziehungsberatung für Erziehende oder kommen auch Kinder zu Ihnen?
Wölfel-Wagner: Es kommen Eltern, ganze Familien, auch Kinder. Natürlich unterscheiden sich die Beratungen entsprechend. Mit Kindern kommen wir spielerisch in Kontakt. Meist wenden sich Eltern an uns.
Dietz-Ernst: Wir haben mit der Erziehungsberatung eine staatliche Pflichtaufgabe übernommen. Dazu gehört, dass auch Jugendliche ohne das Wissen ihre Eltern beraten werden können.
Wölfel-Wagner: Alleine finden Jugendliche aber nur selten den Weg in die Beratungsstelle...
Dietz-Ernst: ...Wir brauchen oft die Mittler, das sind zum Beispiel Lehrer oder Schulsozialarbeiter, die helfen, dass der Funke überspringen kann.

Was sind die klassischen Themen Ihres Berateralltags?
Wölfel-Wagner: Allgemeine Erziehungsfragen, Scheidung. Das können Fragen sein wie: Mein Kind hört nicht, wie gehe ich damit um? Wie soll ich mit dem Trotz meines Kindes umgehen? Welche Auswirkungen hat eine Trennung auf mein Kind?

Sind das seit Jahrzehnten dieselben Fragen oder gibt es Trends?
Wölfel-Wagner: Es gibt Veränderungen - und es gibt eine Werte-Verunsicherung. Unsere Gesellschaft bietet viele Entfaltungsmöglichkeiten. Die negative Seite davon ist: Vielen geht die Orientierung verloren. Eltern müssen oft eine Anpassungsleistung vollbringen, denn viele Werte, die sie in ihrer eigenen Erziehung erfahren haben, sind heute nicht mehr angemessen.

Zum Beispiel?
Wölfel-Wagner: Die Mediennutzung. Man spricht ja sogar von Digital Immigrants. Eltern müssen sich zwangsläufig mit dem neuen Thema auseinandersetzen.
Dietz-Ernst: Einen grundlegenden Wandel hat es auch im Rollenverständnis der Mütter gegeben. Vor 30 Jahren waren die Mütter lange zu Hause. Es gab alleine im Landkreis Forchheim 35 Mutter-Kind-Gruppen der Caritas. Heute gehen die Mütter früh in den Job zurück. Die Doppelbelastungen von Beruf und Familie ist die Regel. Eine Vielzahl von Aufgaben und Möglichkeiten prasselt auf uns alle nieder. Kinder brauchen Zeit, Strukturen und Rituale. Wer schafft das heute noch?

Ist da nicht auch eine Erziehungsberatungsstelle machtlos?
Wölfel-Wagner: Vor diesem Hintergrund heißt beraten für uns, die Eltern zu unterstützen, ihren eigenen Weg zu finden. Wie positioniere ich mich in diesem gesellschaftlichen Feld? Diese Frage gilt es immer wieder zu beantworten.

Es gibt also keinen Erziehungsleitfaden, an dem Sie sich orientieren und den Sie vermitteln wollen?
Dietz-Ernst: Unser oberster Leitsatz ist unser Grundgesetz. Da steht ja drin, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass ein Kind das Recht auf Unversehrtheit hat. Erziehungsberatung darf man sich nicht so vorstellen, dass wir mit einer Situation A konfrontiert werden und dann sagen, daraus ergibt sich die Lösung B.

Und was tun Sie, wenn Sie die Überzeugung eines Vaters oder einer Mutter für falsch oder gar gefährlich halten?
Dietz-Ernst: Natürlich gibt es jede Menge pädagogische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse, an denen wir uns orientieren. Das sind Fakten, von denen wir nicht abweichen. Wenn beispielsweise geschiedene Eltern glauben, ihre Kinder müssten alle zwei Tage umziehen, weil sie abwechselnd bei Papa und Mama sein müssten, dann zeigen wir auf, welche Auswirkungen das auf die Kinder haben kann.
Wölfel-Wagner: Wir erteilen keine festen Ratschläge. Das hängt auch damit zusammen, dass wir das Gesamtbild des Ratsuchenden anschauen, nicht isoliert ein Störungsbild. Es geht immer darum, günstige Bedingungen zu schaffen...
Dietz-Ernst: ... und nie darum, ein Symptom einer bestimmten Ursache zuzuordnen. Unsere Grundlage ist es, systemisch zu denken. Da gibt es nicht immer eine feste Bedeutung - vielmehr muss der Bedeutungszusammenhang gemeinsam ergründet werden. Aber man muss auch wissen, dass eine Beratung nicht immer rosig verläuft. Es gehört für uns auch dazu, manchen Eltern aufzuzeigen, dass ihre Erwartungen zu hoch sind. Ja, unsere Aufgabe ist es manchmal auch, Erwartungen zu frustrieren und zu enttäuschen.

Welche Angebote der Erziehungsberatung sind im Laufe der Jahrzehnte verschwunden, weil sich der Erziehungsbegriff verändert hat. Spielt die Idee der antiautoritären Erziehung noch eine Rolle?
Dietz-Ernst: Von antiautoritärer Erziehung spricht heute keiner mehr. Es geht eher um Wärme und Sicherheit, gekoppelt an klare Strukturen. Und auch viele Angebote sind verschwunden: In meinen Anfängen, als 24-Jährige, habe ich beispielsweise einen Alleinerziehenden-Treffpunkt gegründet. Das hat sich gesellschaftlich längst überholt. Der Treffpunkt wurde nach zehn Jahren beendet, weil Alleinerziehende keine Randgruppe mehr sind.
Wölfel-Wagner: Oder der Zeugnis-Notdienst. Der hat sich längst überholt, unter anderem weil es Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter gibt. Dagegen haben sich die Trennungs- und Scheidungsgruppen etabliert, die gibt es seit 1996. Oder das Projekt "Mini-Mumm", die sogenannte Schrei-Baby-Beratung, die es erst seit 2008 gibt. Ein typisches Beispiel für eine veränderte Sichtweise. Auf die Bedürfnisse der Kinder zu achten, das war lange Zeit kein Thema. Da hieß es: Lass das Kind schreien, es hört schon wieder auf. Oder Eltern blieben mit ihrer Überforderung und Hilflosigkeit alleine.

Wir leben in einem Landkreis mit vielen Kulturen. Stoßen Sie nicht an Ihre Grenzen, wenn Sie mit Eltern zu tun haben, die völlig fremden Erziehungsidealen folgen?
Wölfel-Wagner: Die Differenz zur gesellschaftlichen Erwartung gibt es natürlich. Aber auch die Beratung mit Eltern aus anderen Kulturen funktioniert sehr gut. Wichtig ist der Respekt - und das Anders-Sein zulassen zu können. Wir schaffen Bewusstsein für Möglichkeiten und sagen nicht: So musst du es machen.
Dietz-Ernst: Aber natürlich gibt es Grenzen. Und wenn ein Vater kommt und sagt, dass seine Tochter nicht in den Matheunterricht braucht, weil das in seinem Land nicht üblich sei, dann zeigen wir auf, dass es damit eine Diskrepanz zu unserem Schulsystem gibt.

Was ist der Vorteil einer Beratungsstelle im Vergleich zu therapeutischen Angeboten?
Dietz-Ernst: Wir können niederschwellige Angebote machen, frühzeitig eingreifen und zeitnah Termine anbieten.
Wölfel-Wagner: Die Erziehungsberatung reagiert flexibel auf gesellschaftlichen Wandel. Unser Ziel ist es Eltern zu stärken für ihre Kinder dazu sein. Das möchten wir künftig noch stärker tun, etwa durch eine ortsnahe Beratung. Schön zu beobachten ist, dass das Bewusstsein für Beratung steigt - und dass sie leichter angenommen wird, weil die Hemmschwelle, eine Beratungsstelle aufzusuchen im Laufe der Jahrzehnte niedriger geworden ist.

Das Interview führte
Ekkehard Roepert.