Anna-Lena Deuerling
Nach drei, vier Zügen drückt Jutta die Zigarette aus. Sie lehnt mit dem Rücken an der holzvertäfelten Wand, rechts der Tresen. Die Wirtin legt die dünnen Beine auf den Barhocker vor sich, mit der linken Hand füttert sie den Spielautomaten mit einem Zwanziger. "Wir müssen eben kämpfen, jeden Tag", sagt sie. In der "5-Sterne-Boazn" im Münchner Westend herrscht Mittagsflaute.
Vor dem Tresen wartet die 53-Jährige auf Nachtdienstler, Spätdienstler, Rentner, Arbeitslose und Einsame. Mit Berndi kann man gegen 11 Uhr rechnen. Oft kommt er zweimal am Tag. Heute stand er schon um kurz nach 9 Uhr vor der Tür. "Senile Bettflucht nenn ich das", sagt Jutta. Das Lachen wird zum Husten, die Augen tränen hinter der rahmenlosen Brille. Jutta ist ungeschminkt, die kurzen, grauen Haare stehen am Hinterkopf ab.
Der Abend gestern war lang. Berndi hat seinen 79ten Geburtstag in der "Boazn" gefeiert. Der Rentner trägt graues kurzes Haar zu verhärmtem Ausdruck. Der glasige Blick wird nur klar, wenn er von seinem eigenen Laden erzählt. Zwölf Jahre betrieb er die "Blaue Lagune", bis er sich nach insgesamt 40 Jahren aus dem Rotlichtmilieu verabschiedet hat. Der Versuch einer "soliden Kneipe" scheitert. Berndi kommt täglich, seit Jutta im Herbst 2013 die "5-Sterne-Boazn" eröffnet hat.
120 000 Euro hat die Münchnerin in den circa 40 Quadratmeter großen Laden gesteckt - das Geld hat sie geerbt. Die Renovierung läuft komplett in Eigenregie. Sieben Wochen schuften. Sieben Wochen Pizza und Bier. Bis die Kneipe am 21. September 2013 öffnet. Der Artikel zur Neueröffnung aus dem Westend-Anzeiger hängt eingerahmt an der Wand. Ein Lebkuchenherz schwärmt "Weil i di so narrisch gern mog". An einem kleinen Maibaum hängen ein roter Spitzen-BH, Lesebrillen, Erinnerungsfotos, Blumenketten. "Alkohol? Kenne dein Limit" steht auf einer Postkarte.
Jutta stellt Berndi sein zweites Glas Rotwein hin, dazu ein Stamperl Sambuca. Der süßliche Anis-Geruch mischt sich mit dem Zigarettenrauch. Seit 2010 herrscht in Kneipen in Bayern absolutes Rauchverbot.
Je leerer die Kneipe, desto schneller sinkt die Stimmung der Wirtin. Berndi weiß, wie er sie aufheitern kann - eine Runde "Lügner". Über die Anlage läuft "Sweet Baby Love". Jutta holt einen abgegriffenen Lederbecher und die "guten" Würfel. Sie würfelt und lässt den Bierdeckel noch zweimal auf den Becher schnalzen, gibt ihn weiter. So geht es hin und her.
"Wenn der gestikuliert, dann lügt er", sagt Jutta. Sie gewinnt. "Als Westend-Mama muss man alle seine Pappenheimer kennen." Der eine müsse nach fünf Bier nach Hause, der andere werde nach zehn erst lustig, aber nach zwölf beginne er zu stottern.
"Unter jedem Dach ein Ach", sagt sie. Wer sein Päckchen abladen will, könne das in Juttas "Wohnzimmer" tun. Einsamkeit, Befindlichkeiten, Stress, Existenzängste - wer vormittags kommt, kriegt eine Einzelsitzung. "Die früh kommen, brauchen mich dann alleine", sagt sie. Einer davon ist Mario. Mit Ende 30 kommt es zum Offenbarungseid am Kneipentresen: Privatinsolvenz. Den Stapel ungeöffneter Briefe bringt er in die "Boazn". Wie so viele, die seit vier Jahren immer wieder kommen, braucht er Jutta. Sie suchen ein freundliches Gesicht und vielleicht etwas Glück am Automaten. Zuhause wartet meist niemand.
Mittlerweile sitzt der Tresen voll. Bei Hellem, Weißwein-schorle und Weizen wird der gestrige Abend rekapituliert. Es gibt einstimmiges Lob für die Fleischpflanzerl. Berndi zieht sich den Friesennerz über und geht die 200 Meter nach Hause. Der Roller bleibt stehen. Er wird heute nicht mehr kommen. Auch Mario schafft es heute nicht. Keine Post für Jutta - außer die eigenen Rechnungen.
2700 Euro Kaltmiete im Monat kostet der Traum von der eigenen Kneipe. Dazu kommen Nebenkosten, Gema, Knappschaft. "Bis zum 10ten des Monats muss das drin sein", sagt sie. "Nicht wie die Made im Speck - aber mei Bua und ich können davon leben", sagt sie und drückt die Zigarette aus. Sie zieht ihre Strickjacke enger um den Körper. Auf dem Gehweg vor der Kneipe kämpfen sich Mütter mit Kindern durch den Regen.
Alex löst seine Mutter jeden Tag um 16 Uhr ab. Dann muss draußen geraucht werden. Jutta nippt an ihren dritten Desperados mit einem Spritzer Zitrone, fährt sich mit den Fingern durchs Haar. "Schatzi, gib mer mal an Zwanziger", sagt sie zu Alex. Der Schein verschwindet im Spielautomaten. Ein Geben ohne Nehmen. Am Tresen wie am Automaten.
In den zweiten Automaten lässt Nici ein Zwei-Euro-Stück nach dem anderen fallen. Nici ist 1,78 und hat ein breiteres Kreuz als die meisten Männer, die im Stüberl sitzen. Highheels, Maniküre, Sonnenbrille - sie lässt sich gerne auf Ende 30 schätzen und bestellt noch eine Weißweinschorle. Später steigt sie auf Whisky Cola um. Sie arbeitet in der Rechtsabteilung eines großen Münchner Automobilkonzerns.
Bevor sie sich zwei Stunden später vom Taxi abholen lässt, gibt es noch Absprachen zwischen Tresen und Spielautomat. Nici ist Juttas Steuerberaterin und hat sie vor der Insolvenz gerettet. 10 000 Euro sollte Jutta vor 1,5 Jahren ans Finanzamt zurückzahlen. "Schlecht beraten", sagt Nici und findet noch deutlichere Worte für den ehemaligen Steuerberater. Durch Zufall kommt sie damals in die "Boazn" und übernimmt Juttas Chaos. Unter jedem Dach ein "Ach".
Bis die letzten für einen Absacker nach der Spätschicht da waren, bleibt das Stüberl in der Regel geöffnet. An einem guten Tag sind es 500 Euro Umsatz. Zum Monatsende ist das oft nur noch die Hälfte. Ein Festgehalt lässt sich Alex nicht auszahlen. Was er braucht, nimmt er sich aus der Kasse. Viel ist das nicht.
Es ist der 10te des Monats, gegen 21 Uhr sitzen noch drei Mann am Tresen, zwei im Nebenraum. Kein besonders guter Tag. Jutta ist nach Hinten gegangen. "Wohnzimmer" und Schlafzimmer trennen nur eine Tür. Alex schreibt den Spätdienstlern, er wolle heute mal früher schließen. Er kassiert ab. Übrig bleibt nur Berndis Deckel. Und sein roter Roller vor der Tür.
Nach drei, vier Zügen drückt Jutta die Zigarette aus. Sie lehnt mit dem Rücken an der holzvertäfelten Wand, rechts der Tresen. Die Wirtin legt die dünnen Beine auf den Barhocker vor sich, mit der linken Hand füttert sie den Spielautomaten mit einem Zwanziger. "Wir müssen eben kämpfen, jeden Tag", sagt sie. In der "5-Sterne-Boazn" im Münchner Westend herrscht Mittagsflaute.
Vor dem Tresen wartet die 53-Jährige auf Nachtdienstler, Spätdienstler, Rentner, Arbeitslose und Einsame. Mit Berndi kann man gegen 11 Uhr rechnen. Oft kommt er zweimal am Tag. Heute stand er schon um kurz nach 9 Uhr vor der Tür. "Senile Bettflucht nenn ich das", sagt Jutta. Das Lachen wird zum Husten, die Augen tränen hinter der rahmenlosen Brille. Jutta ist ungeschminkt, die kurzen, grauen Haare stehen am Hinterkopf ab.
Der Abend gestern war lang. Berndi hat seinen 79ten Geburtstag in der "Boazn" gefeiert. Der Rentner trägt graues kurzes Haar zu verhärmtem Ausdruck. Der glasige Blick wird nur klar, wenn er von seinem eigenen Laden erzählt. Zwölf Jahre betrieb er die "Blaue Lagune", bis er sich nach insgesamt 40 Jahren aus dem Rotlichtmilieu verabschiedet hat. Der Versuch einer "soliden Kneipe" scheitert. Berndi kommt täglich, seit Jutta im Herbst 2013 die "5-Sterne-Boazn" eröffnet hat.
120 000 Euro hat die Münchnerin in den circa 40 Quadratmeter großen Laden gesteckt - das Geld hat sie geerbt. Die Renovierung läuft komplett in Eigenregie. Sieben Wochen schuften. Sieben Wochen Pizza und Bier. Bis die Kneipe am 21. September 2013 öffnet. Der Artikel zur Neueröffnung aus dem Westend-Anzeiger hängt eingerahmt an der Wand. Ein Lebkuchenherz schwärmt "Weil i di so narrisch gern mog". An einem kleinen Maibaum hängen ein roter Spitzen-BH, Lesebrillen, Erinnerungsfotos, Blumenketten. "Alkohol? Kenne dein Limit" steht auf einer Postkarte.
Jutta stellt Berndi sein zweites Glas Rotwein hin, dazu ein Stamperl Sambuca. Der süßliche Anis-Geruch mischt sich mit dem Zigarettenrauch. Seit 2010 herrscht in Kneipen in Bayern absolutes Rauchverbot.
Je leerer die Kneipe, desto schneller sinkt die Stimmung der Wirtin. Berndi weiß, wie er sie aufheitern kann - eine Runde "Lügner". Über die Anlage läuft "Sweet Baby Love". Jutta holt einen abgegriffenen Lederbecher und die "guten" Würfel. Sie würfelt und lässt den Bierdeckel noch zweimal auf den Becher schnalzen, gibt ihn weiter. So geht es hin und her.
"Wenn der gestikuliert, dann lügt er", sagt Jutta. Sie gewinnt. "Als Westend-Mama muss man alle seine Pappenheimer kennen." Der eine müsse nach fünf Bier nach Hause, der andere werde nach zehn erst lustig, aber nach zwölf beginne er zu stottern.
"Unter jedem Dach ein Ach", sagt sie. Wer sein Päckchen abladen will, könne das in Juttas "Wohnzimmer" tun. Einsamkeit, Befindlichkeiten, Stress, Existenzängste - wer vormittags kommt, kriegt eine Einzelsitzung. "Die früh kommen, brauchen mich dann alleine", sagt sie. Einer davon ist Mario. Mit Ende 30 kommt es zum Offenbarungseid am Kneipentresen: Privatinsolvenz. Den Stapel ungeöffneter Briefe bringt er in die "Boazn". Wie so viele, die seit vier Jahren immer wieder kommen, braucht er Jutta. Sie suchen ein freundliches Gesicht und vielleicht etwas Glück am Automaten. Zuhause wartet meist niemand.
Mittlerweile sitzt der Tresen voll. Bei Hellem, Weißwein-schorle und Weizen wird der gestrige Abend rekapituliert. Es gibt einstimmiges Lob für die Fleischpflanzerl. Berndi zieht sich den Friesennerz über und geht die 200 Meter nach Hause. Der Roller bleibt stehen. Er wird heute nicht mehr kommen. Auch Mario schafft es heute nicht. Keine Post für Jutta - außer die eigenen Rechnungen.
2700 Euro Kaltmiete im Monat kostet der Traum von der eigenen Kneipe. Dazu kommen Nebenkosten, Gema, Knappschaft. "Bis zum 10ten des Monats muss das drin sein", sagt sie. "Nicht wie die Made im Speck - aber mei Bua und ich können davon leben", sagt sie und drückt die Zigarette aus. Sie zieht ihre Strickjacke enger um den Körper. Auf dem Gehweg vor der Kneipe kämpfen sich Mütter mit Kindern durch den Regen.
Alex löst seine Mutter jeden Tag um 16 Uhr ab. Dann muss draußen geraucht werden. Jutta nippt an ihren dritten Desperados mit einem Spritzer Zitrone, fährt sich mit den Fingern durchs Haar. "Schatzi, gib mer mal an Zwanziger", sagt sie zu Alex. Der Schein verschwindet im Spielautomaten. Ein Geben ohne Nehmen. Am Tresen wie am Automaten.
In den zweiten Automaten lässt Nici ein Zwei-Euro-Stück nach dem anderen fallen. Nici ist 1,78 und hat ein breiteres Kreuz als die meisten Männer, die im Stüberl sitzen. Highheels, Maniküre, Sonnenbrille - sie lässt sich gerne auf Ende 30 schätzen und bestellt noch eine Weißweinschorle. Später steigt sie auf Whisky Cola um. Sie arbeitet in der Rechtsabteilung eines großen Münchner Automobilkonzerns.
Bevor sie sich zwei Stunden später vom Taxi abholen lässt, gibt es noch Absprachen zwischen Tresen und Spielautomat. Nici ist Juttas Steuerberaterin und hat sie vor der Insolvenz gerettet. 10 000 Euro sollte Jutta vor 1,5 Jahren ans Finanzamt zurückzahlen. "Schlecht beraten", sagt Nici und findet noch deutlichere Worte für den ehemaligen Steuerberater. Durch Zufall kommt sie damals in die "Boazn" und übernimmt Juttas Chaos. Unter jedem Dach ein "Ach".
Bis die letzten für einen Absacker nach der Spätschicht da waren, bleibt das Stüberl in der Regel geöffnet. An einem guten Tag sind es 500 Euro Umsatz. Zum Monatsende ist das oft nur noch die Hälfte. Ein Festgehalt lässt sich Alex nicht auszahlen. Was er braucht, nimmt er sich aus der Kasse. Viel ist das nicht.
Es ist der 10te des Monats, gegen 21 Uhr sitzen noch drei Mann am Tresen, zwei im Nebenraum. Kein besonders guter Tag. Jutta ist nach Hinten gegangen. "Wohnzimmer" und Schlafzimmer trennen nur eine Tür. Alex schreibt den Spätdienstlern, er wolle heute mal früher schließen. Er kassiert ab. Übrig bleibt nur Berndis Deckel. Und sein roter Roller vor der Tür.