Da geht man am Abend konzertgestimmt auf das Kissinger Kurtheater zu und hat plötzlich das Bayreuther Gefühl. Stehen doch da vor dem Eingang ein paar traurig blickende Menschen, die ein kleines Schild vor sich halten: Karten gesucht!. Aber wenn man hineingeht, versteht man warum. Es genügen offenbar vier Berliner Philharmoniker - also ein Siebenunddreißigstel des gesamten Orchesters - und zwei Jazzer "von der Straße", um das Theater bis unters Dach restlos zu füllen.
Und warum? "Bolero Berlin" war angekündigt, eine kleine Formation des Orchesters, die gerne auch mal etwas anderes tun wollen, als immer nur Brahms und Beethoven und Mahler zu spielen - sozusagen eine "paraphilharmonische Vereinigung". Das sind der Bratscher Martin Stegner, der Klarinettist und Urbayer Manfred Preis, der Kontrabassist Esko Laine und der Schlagzeuger Raphael Haeger, der sich in dieser Vereinigung aber an den Flügel setzt. Dazu kommen, sozusagen von außen, der Gitarrist, Komponist und Arrangeur Helmut Nieberle und der Schlagzeuger Daniel "Topo" Gioia.
Wenn klassisch ausgebildete und praktizierende Orchestermusiker sich dazu entschließen, im Kontrastprogramm ihres Lebens auch mal Jazz zu spielen, dann ist das sehr oft ein dünnes Eis. Denn es ist gar nicht so einfach, aus der gewohnten Orchesterdisziplin auszubrechen und einfach einmal die Sau der Phantasie rauszulassen. Seinen Perfektionsanspruch muss man ja deshalb nicht aufgeben. Bei "Bolero Berlin" zerstreute sich die Sorge sehr schnell. Natürlich sind auch sie sehr ernsthaft und konzentriert bei der Sache und misstrauen dem Klamauk (bei Esko Laine hat es bis nach der Pause gedauert, bis er mal erkennbar gelächelt hat; aber der ist auch Finne). Und Martin Stegner, der den Abend moderierte, suchte keine Show, sondern kam mit ein paar kleinen Anekdoten und einer guten Portion Selbstironie sehr gut aus. Aber sie haben etwas richtig gemacht, was die meisten jazzenden Philharmoniker gerne übersehen oder verdrängen: "Als wir uns 2008 gründeten, haben wir schnell gemerkt, dass wir auch Profi-Jazzer brauchen." So kamen Helmut Nieberle und Daniel "Topo" Gioia in die Band.
Man merkt ihre Handschrift. Helmut Nieberle, der die meisten der 13 Stücke für die Gruppe ungemein passend arrangiert hat, ist ja nicht nur Gitarre spielender Kollege, sondern auch so ein bisschen der Organisator und Mentor von der Seitenlinie. Und Topo Gioia hat so viel Erfahrung, das er sich nie in den Vordergrund spielen muss, aber immer präsent bleibt - obwohl er auf Sticks völlig verzichtet. Esko Laine ist ein ungemein virtuoser und konditionell unbegrenzter Bassist, nicht nur mit einem höchst farbigen Pizzicato. Es tut ja so gut und ist so selten, dass ein Jazzbassist auch mit dem Bogen die richtigen Töne trifft.
Bei Raphael Haeger merkte man, dass er im Brotberuf Schlagzeuger ist. Er ist auch ein fabelhafter perkussiver Pianist. Aber er scheint ein bisschen Angst zu haben, dass er schnell zu laut wird, und so war er halt öfter mal zu leise und zu stark auf reines Akkordspiel fixiert. Bei seinen Soli langte er dann aber schon hin. So hatten die "Frontmen" Martin Stegner und Manfred Preis nicht nur eine ungemein homogene und wirklich schön und hochgradig animierende spielende Rhythmusgruppe hinter sich, sondern auch einen großen Freiraum, um sich zu entfalten.
Dass die Musik unterm Strich immer kammermusikalisch rüberkam, war bei den Berlinern ein unerwartetes Plus. Denn die Musik groovte wirklich, und zwar - natürlich - durch Südamerika und Kuba, aber vergnüglicherweise auch durch die Welt der Oper: "Richard Wagner war der Erfinder des Blues!" Ja, wenn man "O du mein holder Abendstern" aus dem "Tannhäuser" derart lasziv durch den Kakao zieht, könnte man das fast glauben. Oder: Hätte Verdi je geglaubt, dass er einen Calypso komponiert hat? Obwohl: "La donna è mobile" aus dem "Rigoletto" verleitet schon wegen seiner Frechheit zur Jazzifizierung und zur - klanglichen - Verlagerung in den australischen Urwald. Helmut Nieberles Komposition "Choro Waltz" mit seinem Zwei-, Drei- und Fünf-Achtel-Takt erwies sich tatsächlich als ein höchst raffinierter, vielschichtiger Walzer.
Wer sagt denn, dass man auf einen Walzer immer tanzen können muss? Aber es waren auch Kompositionen von Consualo Velázquez, Hermeto Pascoal, Carlos Gardel und anderen, die die südamerikanischen Farben in das variable Spiel der Gruppe ebenso wie in die phantasievollen Soli. Den letzten Beweis für musikalische Höhenflüge lieferte Bizets Habanera "L'amour est un oiseau rebelle" aus seiner Oper Carmen. Nach einem leichthändigen Intro, in dem die Gitarre schon mal das Thema verriet, geschah es plötzlich: eine Bratschenexplosion. Da säbelte sich Martin Stegner in eine derartige Ekstase, dass die Bogenhaare flogen. Und Manfred Preis, getrieben von einem sich langsam chromatisch in die Höhe schraubenden Rhythmusquartett, machte es ihm nach. Das Ergebnis war umwerfend; aber der Jubel half nichts: zwei Zugaben und dann ab zum Signieren. Dabei hatte niemand gesagt, dass irgendwann Schluss sein müsste.