Nach der ersten Nacht mit ihrem Ehemann war alles voller Blut. Raha* wird wochenlang Infusionen bekommen, ehe sie sich erholt hat. Von dem was in dem Bett passiert ist, hat sie nicht viel mitbekommen, erzählt sie. Ein Arzt habe ihr damals Tabletten gegeben. Eine von den Pillen sollte sie vorher nehmen, damit sie weniger spürt. Raha* schluckte gleich mehrere. Sie hatte keine Ahnung, was der Mann, mit dem sie seit einem Jahr verheiratet war, mit ihr vor hatte. Raha* war elf Jahre alt.
Ihr richtiger Name soll geheim bleiben. Ihre Geschichte nicht. Vielleicht kann sie so anderen Frauen helfen, Mut machen, sagt Raha Jousufi*. Frauen, die wie sie im Schweinfurter Frauenhaus Hilfe suchen - und finden.
Raha Jousufi* sitzt an dem runden Holztisch im "Beratungszimmer 1". Beinahe unsichtbar fixieren dünne Nadeln das akurat gefaltete Kopftuch. Schwarzer Pulli, langer grauer Rock, Turnschuhe spitzen darunter hervor. Ihre Hände fassen eine Tasse Kaffee. Neben ihr: Gertrud Schätzlein, Leiterin des Frauenhauses. Seit 17 Monaten lebt Raha Jousufi getrennt von ihrem Mann. Vor ein paar Wochen ist die 31-Jährige vom Frauenhaus in ihre erste eigene Wohnung gezogen - samt der drei Kinder. Sehen darf die ihr Noch-Ehemann nicht mehr.
Versuchter Selbstmord
Raha Jousufi spürte bald, dass der Mann, mit dem sie verheiratet worden war, kein guter Mensch ist, erzählt sie. Die Eltern hatten die Hochzeit mit dem 21 Jahre älteren Schafhirten arrangiert. Raha Jousufi ist in Afghanistan geboren worden. Später flüchtete sie mit ihrer Familie in den Iran. Dass ihr Mann nicht gut zu ihr ist, wollte ihre Familie schon früher nicht hören, sagt sie, fasst sich ums Handgelenk und erzählt, wie ihr Bruder ihr mit 13 Jahren aus Zorn darüber den Arm brach. Beim Erzählen schießen ihr die Tränen in die Augen. Sie versucht sich umzubringen - immer wieder. Tabletten, Gift - die 31-Jährige zuckt mit den Schultern und lächelt fast als sie sagt: "Ich lebe immer noch."
Der Mann von Raha Jousufi säuft. Er misshandelt seine Ehefrau, schlägt und tritt die Kinder. Ohne Grund. Immer wieder. Er ist eifersüchtig, kontrolliert sie, beschimpft sie. Ende 2015 kommt die Familie nach Deutschland. "Ich hatte immer die Hoffnung, es wird besser", sagt Raha Jousufi. Bis zu dem Tag, an dem er sie wieder mal bewusstlos prügelt. Danach wurde nicht ihre Ehe besser, sondern ihr ganzes Leben. Sie kam ins Frauenhaus.
Ein Viertel geht wieder zurück zu den gewalttätigen Männern
Es war gerade etwas frei. Sie hatte Glück: Meistens sind die zwölf Plätze belegt. Gerade weil die Frauen inzwischen länger unter der Obhut der Pädagogen leben als noch vor ein paar Jahren. Im Schnitt bleiben sie gut drei Monate. Und danach?
Einige ziehen zu Freunden oder Verwandten, andere - wie Raha Jousufi - in eine eigene Wohnung. Ein Viertel kehrt zurück zu ihrem gewalttätigen Mann. Oftmacht die eigene Familie Druck, erzählt Gertrud Schätzlein. "Besonders bei geflüchteten Frauen aus sehr konservativen Kulturkreisen." Raha Jousufis Familie hat lange gedrängt, sie sollte zu ihm zurück.
Laut des Sachberichts, den das Frauenhaus für das Jahr 2016 herausgegeben hat, haben in diesem Jahr 52 Frauen und 54 Kinder Schutz gesucht. Ein Drittel stammen aus Deutschland, die anderen von überall aus der Welt. Ein Viertel melden sich selbst. Die anderen kommen über Freunde und Verwandte, soziale Einrichtungen, Ämter, Ärzte oder die Polizei in Kontakt mit den Mitarbeiterinnen. Die können die Frauen auch weitervermitteln - an andere Beratungsstellen, Anwälte, Therapeuten oder Ämter.
Im Kissinger Landratsamt ist die Gleichstellungsbeauftragte Ansprechpartnerin. Zweimal im Jahr treffen sich am Amt Akteure aus sozialen Beratungsstellen zu einem "runden Tisch" zum Thema "häusliche Gewalt". Das Schweinfurter Frauenhaus ist Anlaufstelle für Frauen aus den Landkreisen Schweinfurt, Bad Kissingen, Haßberge und Rhön-Grabfeld. Frauen, die von ihren Männern schlecht behandelt werden, bedroht, misshandelt, unter Druck gesetzt - jeden Tag.
Fast alle der Bewohnerinnen kamen 2016 aus Bayern. Zwei Drittel stammen aus der Region, der Rest aus umliegenden Landkreisen. Arabisch, Englisch, Russisch, Türkisch... - die Frauen stammen von überall auf der Welt. Deutschland, Russland, Venezuela, Polen, Kenia, Syrien oder Afghanistan - wie Raha Jousufi. Sie war eine von acht Frauen, die 2016 nach einem Polizeieinsatz aus einer Gemeinschaftsunterkunft ins Frauenhaus einzogen.
Ein Drittel der Frauen, die sich 2016 im Schweinfurter Frauenhaus Hilfe gesucht haben, haben die Gewalt mehr als fünf Jahre geschluckt, ausgehalten, ertragen bevor sie zum Frauenhaus kamen. Drei der Damen halten sie schon mehr als 25 Jahre aus. Gewalt hat viele Gesichter: über psychische und körperliche Gewalt sprechen die meisten der Frauen, einige auch über finanzielle und sexuelle Gewalt.
Hinter dem Frauenhaus steckt der Verein "Frauen helfen Frauen". Hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen sind in Rufbereitschaft, sorgen sich um die Bewohnerinnen, deren Kinder, die Organisation, die Beratung, die Vernetzung, die Verwaltung. Der Verein finanziert sich über Spenden. Ein kleinerer Teil der Zuschüsse fließt von staatlicher Seite, den größten Teil der Förderung übernehmen die Stadt Schweinfurt und die Kommunen der Region Main-Rhön. Außerdem profitiert das Frauenhaus von Bußgeldern, die zu ihren Gunsten von Gerichten ausgesprochen werden.
Grammatik büffeln für die Zukunft
Wenn sie etwas nicht versteht, kräuselt sie ihre sonst glatte Stirn und guckt angestrengt. Seit sie einen Deutschkurs macht, wird das, was sie nicht versteht, jeden Tag weniger. Zum ersten Mal in ihren Leben ist die 31-Jährige Schülerin. Während ihre 13-jährige Tochter und der neunjährige Sohn in der Schule büffeln, lernt auch sie: Vokabeln und Grammatik. Nach dem Unterricht holt sie den Jüngsten aus dem Kindergarten. "Ich habe in 19 Jahren nichts Schönes erlebt", sagt sie. "Ich möchte alles vergessen und geradeaus schauen." Raha Jousufi erzählt, dass sich ihr Vater inzwischen bei ihr entschuldigt hat. Warum er sie verheiratet ließ, werde sie nie verstehen. "Mein Leben kommt nicht zurück." Heute hat sie Angst vor dem Frauenarzt. Und vor Männern, sagt sie. "Ich muss stark sein, weil meine Kinder mich brauchen."
Die meisten der Frauen sind in ihrem Alter und ziehen wie sie mit minderjährigen Kindern in das Frauenhaus ein. Sechs kleine und sechs große Schlafzimmer hat das Frauenhaus, irgendwo in Schweinfurt. Die Einrichtung soll die Frauen vor ihren Partnern schützen. Drei Mal hat Raha die SIM-Karte ihres Handys gewechelt. Immer wieder hatte ihr Mann ihre Nummer herausbekommen und sie und bedroht. Raha will sich scheiden lassen. Und eine Ausbildung machen, wenn sie die Sprachprüfungen geschafft hat. Vielleicht bei einem Arzt als Sprechstundenhilfe? Die 31-Jährige hat einen weichen Lidstrich um ihre dunklen großen Augen gezogen. Die leuchten, wenn sie von ihren Plänen für die Zukunft erzählt. Was sie sich wünscht? Dass die Kinder gut lernen und gute Jobs bekommen, sagt sie. Ihnen soll es besser gehen als ihr.
Raha, das Pseudonym, das sich die 31-Jährige gegeben hat, um unerkannt zu bleiben, ist ein persicher Name - ihre Muttersprache. Übersetzt bedeutet er "die Freie". Das will sie sein: eine frei Frau.